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Céline Sciamma: "Utopien sind keine futuristischen Träume"

Die französische Regisseurin Céline Sciamma über die Idee der "Muse", den weiblichen Blick und ihr historisches Liebesdrama "Porträt einer jungen Frau in Flammen".

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Dieser Artikel erschien in profil Nr. 50/2019 vom 08.12.2019.

Zwei Frauen in einem Raum, die eine malt, die andere posiert. Am dabei entstehenden Gemälde sind, durch Blick und Gegenblick, Intuition und Aura, beide beteiligt - sie sind kreative Komplizinnen, auch davon handelt Céline Sciammas "Porträt einer jungen Frau in Flammen".

Das historische Liebesdrama führt in eine weibliche Binnenwelt: Die französische Regisseurin und Autorin Céline Sciamma, 41, lässt ihre Protagonistinnen in einem Anwesen auf einer kaum bevölkerten Insel vor der Küste der Bretagne aufeinandertreffen. Marianne (Noémie Merlant) soll Héloïse (Adèle Haenel) porträtieren, da diese - dem Wunsch ihrer gräflichen Mutter entsprechend - verheiratet werden soll. Doch die Tochter revoltiert. "Porträt einer jungen Frau in Flammen" gehört zu den wichtigsten Autorenfilmen vergangenen Jahres: Seit seiner Uraufführung in Cannes im Mai 2019 wurde er bereits vielfach preisgekrönt, er eröffnete vor wenigen Wochen auch die Viennale. Sciamma beschwört eine Utopie herauf: die Kunstgeschichte als Dialog unter Frauen, die ohne Anspruch auf Hierarchien koexistieren können; auch die Kammerzofe agiert auf Augenhöhe mit der Hausherrin und ihrer Porträtistin.

"Porträt einer jungen Frau in Flammen" schlägt neue Töne in Sciammas Werk an, das bislang vor allem jugendlichen Erlebniswelten galt: So erscheint etwa "Bande de filles" (Mädchenbande, 2014), ihre mit Laiendarstellerinnen besetzte, impulsiv arrangierte Pop-Studie, wie die Antithese zu diesem streng formalisierten Malereimelodram. Und Sciamma inszeniert das Begehren, das sich zwischen Malerin und Modell entwickelt, keineswegs konventionell, sondern entschieden modernistisch. Aus gespenstisch schwarzen Augen blickt die Künstlerin ihr Gegenüber, die ironisch-ungreifbare Héloïse, an - bis ins mitreißende Finale, in dem die Heldinnen, im Konzertsaal eine frenetische Version von Vivaldis "Sommer" erlebend, ein letztes Mal zusammenkommen.

profil: Ihr Film befasst sich, in historischem Setting, mit Malerei und weiblichem Begehren. Gab es Überraschungen während der Recherche?

Sciamma: Ich wusste beispielsweise nicht, dass es Hunderte Malerinnen im 17. und 18. Jahrhundert gab. Ich kannte ein paar Namen, die Stars eben: Élisabeth Vigée Le Brun, die eine der Malerinnen Marie-Antoinettes war, die Italienerin Artemisia Gentileschi und die englische Malerin Angelica Kauffman - aber ich hatte keine Ahnung, wie reich die Szene war. Es gab sogar feministische Kunstkritikerinnen.

profil: Wurden viele Arbeiten unterdrückter Künstlerinnen zerstört oder versteckt? Sind sie noch auf Dachböden zu entdecken?

Sciamma: Sie befinden sich in den Museen der Welt. Im Louvre kann man Adélaïde Labille-Guiards Kunst betrachten, sie war um 1780 sehr berühmt. Sie porträtierte übrigens die erste Schwarze, die keine Sklavin war. Solche Dinge tun Frauen, wenn sie schöpferisch tätig sind. Wenn Virginia Woolf ein Buch schrieb, tat sie dies nicht kleinlaut, sie revolutionierte lieber die Literatur. Als die Filmemacherin Chantal Akerman 1975 ihr Meisterwerk "Jeanne Dielman" drehte, war sie 25 Jahre alt. Und sie sorgte für einen Umsturz im Autorenfilm. All dies produziert der weibliche Blick: Er bietet nicht poetische kleine Einblicke ins Leben einer Künstlerin, sondern eine neue Schöpfung.

profil: "Porträt einer jungen Frau in Flammen" ist ein Film über die Herstellung von Bildern - auch einer über das Inszenieren. War diese Idee zentral für Sie?

Sciamma: Ich wollte den Liebesdialog mit einem Schöpfungsdialog kreuzen. Ich erzähle, indem ich eine Künstlerin als Protagonistin wähle, vom Sehen und damit auch vom Kino. Filme berichten immer auch davon, wie sie hergestellt wurden. In diesem Fall ist das nur etwas deutlicher. Ich wollte meinen Film spielerisch und großzügig gestalten, auch um eine Figur wie "die Muse" umdeuten zu können. "Muse" ist ein schönes Wort für die lausige Definition einer Mitarbeiterin. Ich wollte die Idee der fetischisierten schweigenden Frau in der Ecke des Zimmers durchkreuzen.

profil: Was unterscheidet den angeblich subversiven weiblichen Blick denn vom vielkritisierten männlichen?

Sciamma: Wir müssen da präzise sein. Der männliche Blick bedeutet nicht, dass ein Mann Filme macht. Auch eine Frau kann Filme machen, die "männlich" blicken. Der männliche Blick macht Frauen zu Objekten, und wir sollen daraus Vergnügen ziehen. Die Theoretikerin Laura Mulvey hat dieses Prinzip 1975 erklärt. In Frankreich existiert so etwas wie der male gaze offiziell gar nicht. Man glaubt an die Schimäre des neutralen Blicks. Aber wir alle sind Produkte des männlichen Blicks, daher müssen wir dazu beitragen, ihn zu dekonstruieren. Das können auch Männer tun.

profil: Wie verfährt der weibliche Blick?

Sciamma: Er würde Subjekte filmen, keine Objekte. Er plädiert dafür, die Erfahrungen der Figuren zu teilen, nicht neutral zu bleiben. Er aktiviert all jene, die das Werk betrachten. Der männliche Blick war so lange die Regel, dass er zu einer Konvention wurde. Zum weiblichen Blick gibt es immer noch so wenig Erfahrung, dass man ihn praktisch nicht definieren kann. Er dient bislang nur dazu, mit der Konvention zu brechen und neue Bilder, neue Reisen für das Publikum zu entwerfen. Auch insofern geht es um Schöpfung.

profil: Sie meinten unlängst, dass ein Historienfilm Ihnen erlaube, als Regisseurin viel freier und mutiger zu sein. Warum?

Sciamma: Weil er offiziell eine Wiederherstellung ist. Filme basieren stets auf Auswahl und Nachbildung. Das Genre des Kostümfilms machte mich mutiger, weil ich keine Lust auf Staubiges, auf Museales oder breit produzierte Schauwerte hatte. Man muss supergeschickt und superwachsam sein, um aus einem historischen Stoff ein gegenwärtiges Filmobjekt machen zu können. Und obwohl ich in meinen früheren Filmen, die bis zu einem gewissen Grad naturalistisch wirken, vor allem Kinder und Teenager in den Pariser Vororten inszeniert hatte, waren die Sets, die Räume, in denen sich meine Filme abspielten, doch meist gebaut.

profil: "Porträt einer jungen Frau in Flammen" fühlt sich fast schwerelos, ätherisch an. In Kritiken fand sich auch das Wort "minimalistisch". Passt es Ihrer Meinung nach zu diesem Film?

Sciamma: Wenn ich Filme mache, denke ich an eine klare Linie. Es geht nur darum: um Einfachheit und Klarheit.

profil: Sehen Sie Ihren Film als Utopie einer weiblichen Mikro-Demokratie -oder denken Sie, es war früher unter Frauen oft so frei, wie Sie das darstellen?

Sciamma: Utopien sind ja nicht imaginäre Welten, keine futuristischen Träume. Sie entstehen aus dem, was wir leben. Ich erfahre in meinem Alltag starke weibliche Solidarität, ein Leben ohne Männer. Deshalb kann ich auch davon erzählen. Utopien sind Erfahrungen, die nur noch nicht mehrheitsfähig sind. Utopien sind der Welt entrückt, aber in ihrer Einsamkeit und Intimität dem Kino sehr nahe. Mein Film zeigt Frauen, die gleichsam außerhalb der Welt sind. Aber wir alle können "aus der Welt" sein, wenn wir die Tür hinter uns verschließen.

profil: Wie reagieren Sie auf Frauen, die Feminismus bekämpfen?

Sciamma: Es macht einen so müde. Deshalb ist mein Film auch nicht theoretisch. Er ist ein Stück Kino, das Ideen verkörpert und eine sinnliche Erfahrung vorschlägt. Ich glaube, dass antifeministische Frauen keine Verbindung zur Schönheit und Stärke einer filmischen Erfahrung herstellen können, die von weiblicher Solidarität - und eben nicht von weiblicher Rivalität - ausgeht. Aber das Patriarchat lehrt, dass Frauen Männer um jeden Preis unterstützen und ihnen gefallen sollten, um von ihnen geliebt zu werden; und dass wir uns nicht mit anderen Frauen verbünden sollten. Auch Ideen können versklaven. Das Kino bietet - wie der Feminismus - Gegenmodelle an, kann Erfahrungen und Schutzräume vermitteln.

profil: Ihr Film lebt von der Spannung zwischen seinen theoretischen Ideen und dem physischen, emotionalen Drama. War diese Balance schwer zu finden?

Sciamma: Je generöser man mit Ideen ist, desto komplexer und freier wird ein Film. Wenn man wenige Ideen hat, wird ein Film thesenhaft. Wenn man lustvoll viele Ideen einbringt, ergeben sich Spannung, Dramatik, Unterhaltung von selbst.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.