Das war 2024: Charli xcx und der Sommer der Gören
Von Natalia Anders
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Sofort sind sie da. Die neongrünen Kacheln mit der verpixelten, in die Länge gezogenen Aufschrift „brat“ – englisch für „Göre“. Schnell wird es unmöglich, sie auf Spotify oder Instagram zu ignorieren – und das Album, das sie bekacheln, erst recht. In dieser Stunde, an diesem 7. Juni, beginnt der „brat summer“, inspiriert von der Königin der Gören, der englischen Sängerin Charli xcx. Im bürgerlichen Leben heißt sie Charlotte Emma Aitchison, wurde im Jahr 1992 in Cambridge geboren und als 20-Jährige mit ihrem 2012er-Hit „I Love it“ weltbekannt. Ihre Musikerinnenkarriere hat sie schon Jahre davor gestartet, in Interviews erzählte sie gern, wie ihre Eltern sie als 14-Jährige um zwei in der Früh zu Rave-Auftritten gefahren haben.
Charli xcxs „brat“ beginnt mit dem Song „360“. Das Stück zeigt gleich einmal, worum es in den kommenden 41 Minuten immer wieder gehen wird: um die Nebenwirkungen des Ruhms, um Selbstbewusstsein und ums It-Girl-Sein. Charli xcx erwähnt die Schauspielerin Julia Fox („I’m everywhere, I’m so Julia“ – Ich bin überall, ich bin so Julia) und das US-Model Gabbriette: („I'm your favorite reference, baby. Call me Gabbriette, you’re so inspired“ – Ich bin deine Lieblingsreferenz, Baby, Nenn mich Gabbriette, du bist so inspiriert.)
Die Königin der Gören hat lange braune, lockige Haare, meistens stark geschminkte Augen und braun bemalte Lippen. Sie trägt weiße Tanktops ohne BH, schwarze Strumpfhosen, über die sie manchmal etwas anzuziehen „vergisst“, und hohe Lederboots, in denen sie bei ihren Konzerten mit großen, selbstbewussten Schritten über die Bühne stolziert, während sie eine Zigarette hält.
Charli xcx ist eine Frau Anfang 30, die gerne auf Technopartys geht, Drogen nimmt, so wirkt, als würde sie sich keine Mühe geben, gut auszusehen, es aber trotzdem tut. Sie gibt sich nicht besonders ladylike, ist laut und extrovertiert, lässt sich von niemandem etwas sagen. Eine Göre eben, ein lebendes Negativbeispiel für alles, was in Thomas Schäfer-Elmayers „Alles, was Sie über gutes Benehmen wissen müssen“ so drinsteht.
Was Sie über Charlie xcx wissen müssen: Wie keine andere in diesem Sommer verkörpert sie diese eine Freundin, bei der Sie sich ständig fragen, ob sie ihr Leben eigentlich noch im Griff hat, die es aber trotzdem immer irgendwie schafft, die Dinge auf die Reihe zu bekommen. Diese Freundin, die zu jedem Treffen mit neuen Geschichten ankommt, die glatt verfilmt werden könnten; die Freundin, der Sie aber auch alles anvertrauen können und von der Sie sich ganz sicher sind, dass sie niemals über Sie urteilen würde.
Die Königin der Gören
Charli xcx hat mir ihrem Album den Sommer 2024 zum „brat“-Sommer deklariert.
Freundinnenschaft ist überhaupt ein zentrales Anliegen von Charli xcx: In „So I“ geht es unter anderem auch darum, wie sehr Charli xcx es bereut, in der Vergangenheit keine gute Freundin gewesen zu sein. Der Song ist eine Hommage an SOPHIE, eine Musikproduzentin und gute Freundin von Charli xcx, die im Jänner 2021 bei einem Sturz tragisch gestorben ist. In dem Song bedauert die Sängerin, dass sie sich von SOPHIE eine Zeit lang distanzierte, weil sie dachte, sie selbst sei nicht cool genug für ihre Freundin: „Your star burns so bright. (Why did I push you away?) I was scared sometimes. You had a power like a lightning strike.“ (Dein Stern leuchtet so hell (Warum habe ich dich weggestoßen?) Ich hatte manchmal Angst. Du warst so mächtig wie ein Blitzschlag.)
Ein durchgehendes Thema ist auf „brat“ allerdings nicht auszumachen, jeder der 15 Songs hat seinen eigenen Stil, erzählt seine eigene Geschichte. Alle Songs sind schnell, hyper-poppig, mit einer Spur Techno und Autotune versehen; die Melodien einprägsam, genauso wie die Lyrics, beide fallen nicht rasend komplex aus. „brat“ eignet sich genauso gut zum Tanzen auf der Afterhour-Party wie für den nachdenklichen Spaziergang durch die Stadt.
In „Apple“ behandelt Charlie xcx, Tochter einer Inderin und eines Briten, generationenübergreifende Traumata und die Beziehung zu ihren Eltern: „I think the apple’s rotten right to the core. From all the things passed down, from all the apples coming before.“ (Ich denke, der Apfel ist bis zum Kern verdorben. Von all den Dingen, die weitergegeben wurden, von all den Äpfeln, die vorher kamen.)
Im Song „I think about it all the time“ wird das gleiche Thema in die Zukunft gerichtet. Charli xcx widmet sich der großen Frage des Mutterseins: „Should I stop my birth control? Cause my career feels so small / In the existential scheme of it all.“ (Soll ich aufhören, die Pille zu nehmen? Meine Karriere wirkt so klein im großen Ganzen.)
In anderen Stücken, etwa „Club Classics“ oder „365“, geht es um die pure Selbstbestimmung; und darum, sich selbst beim Hören einfach wie eine coole Socke zu fühlen – auch wenn man gerade in einer im Stau stehenden Straßenbahn steckt und nicht in einem Londoner Club.
Charli xcx hat es mit „brat“ geschafft, Millionen Hörerinnen und Hörern ein neues Selbstbewusstsein zu geben. Und ja, das musste in diesem Sommer einfach eine politische Dimension annehmen. Auch der Social-Media-Account der demokratischen US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris postete die neongrüne Kachel. Und Charli xcx selbst schrieb auf X, dass Harris „brat“ sei („kamala is brat“.) Wahlentscheidend war das aber wohl nicht.
Der Brat-Sommer ist kurz, schon am 2. September ruft Charli xcx sein Ende aus: „goodbye forever brat summer.“ (Auf Wiedersehen für immer, Brat Sommer.) Nächstes Jahr wird Charli xcx trotzdem auf große Brat-Tour gehen, um den Görengeist weiter in der Welt zu verteilen. Ein Österreich-Termin ist bislang leider ausständig.
Natalia Anders
ist Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.