Chemnitz: Roman über den Ausländerhass im deutschen Osten
Man trifft nur auf Verlierer. Die Brüder Tobias und Philipp wachsen inmitten einer von Steinbrüchen zerklüfteten Landschaft auf, Hinterlassenschaft einer Schwerindustrie, die zu DDR-Zeiten die Erde nach Bodenschätzen durchpflügte. Sandige Straßen, die schnurgerade ins Nirgendwo führen, Straßenschilder mit seltsamen Ortsnamen.
"Nur der Mond, wie sie es nannten. Die grauen, abgebaggerten Flächen bis zum Horizont", schreibt Lukas Rietzschel in seinem Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen", in dem die ostdeutschen Nachwendekinder Tobias und Philipp bis ins Jahr 2015 hinein begleitet werden: "Untergegangene, traurige Scheiße. Kein Mensch auf der Straße. Abriss und Leerstand." Im ostsächsischen Dorf der Brüder lehnen Männer in Unterhemden von früh bis spät in Fensterrahmen. Man wartet umsonst darauf, dass etwas passiert. Bald werden Tobias und Philipp in bräsiger Selbstgewissheit ein Ventil für ihre Wut und ihren Frust finden -und Jagd auf alles Fremde machen.
"Mit der Faust in die Welt schlagen" ist das starke Debüt eines Autors, der genau weiß, wovon er erzählt, in unterkühltem Ton, der kein Sentiment nach Ex-DDR-Heimeligkeit und Ossi-Jammerei aufkommen lässt. Rietzschel wurde 1994 im ostsächsischen Räckelwitz geboren, lebt und arbeitet heute in Görlitz, nahe der Stadt Chemnitz, wo jüngst ein rechter Mob auf offener Straße ein Kesseltreiben gegen Immigranten veranstaltete. "Ich gehe mit den jüngsten Vorkommnissen in Chemnitz so um wie mit all den anderen Ereignissen, die in Sachsen seit Jahren passieren -siehe Dresden, Bautzen, Freital, Clausnitz, Heidenau", sagt Rietzschel. "Es ist nicht das erste Mal, dass der Osten Deutschlands dieses hässliche Gesicht zeigt. Chemnitz ist aber insofern neu, als die Rechte mit giftigem Trotz agiert. Seit 2015, seit der großen Flüchtlingswelle, proklamiert sie auf allen Kanälen: ,Hört auf uns, Ausländer sind kriminell und gefährlich!' Diese Stimmung schlägt jetzt in Wut um und dreht sich gefährlich Richtung Selbstjustiz:,Der Staat kann uns nicht schützen, jetzt müssen wir das Heft in die Hand nehmen!' Die Rechten werden nicht freiwillig weichen, noch radikaler den Schulterschluss mit der AfD suchen."
Mit den politischen Beschwichtigungsritualen, die regelmäßig darin münden, die "Sorgen und Nöte der Menschen" ernst nehmen zu wollen, kann Rietzschel im Gespräch und in seinem Roman wenig anfangen. "Bereits in Hoyerswerda 1991 und in Rostock-Lichtenhagen 1992, als der Fremdenhass in Pogromen eskalierte, kursierten diese Plattheiten", sagt er. "Die Politik behilft sich lediglich mit dem Umkehrschluss: Okay, wir hören auf das, was die Wähler wünschen, und gehen immer strikter gegen Ausländer und Migranten vor! Wir beschützen euch!"
In seinem beachtlichen Panoptikum beschädigter Leben holt Rietzschel weit aus, um eine Erklärung für die unaufhaltsame Verwandlung zweier blasser Buben in rechte Recken zu finden. Chemnitz hat eine Vorgeschichte. Sie könnte im Dorf von Tobias und Philipp begonnen haben. Was im Kleinen stattfindet, wiederholt sich im Großen. Rietzschel lenkt im Roman die Aufmerksamkeit auf die Summe aus vielen kleinen Momenten des Wegblickens und Nicht-Wahrhaben-Wollens. Der Sprachlosigkeit und des Starrsinns. Das Gift von Ideologie und Nationalismus tröpfelt langsam in Tobias und Philipp.
"Als Jugendlicher bemerkte ich, wie einige meiner Freunde förmlich abdrifteten", sagt Rietzschel. "Ein Nullpunkt war 2010 erreicht, als Thilo Sarrazin sein Buch , Deutschland schafft sich ab' vorstellte. Plötzlich war es zulässig, über Ausländer zu schimpfen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Fremden in Sachsen lebten."
In "Mit der Faust in die Welt schlagen" unternimmt der Großvater gemeinsam mit den Brüdern einen Ausflug nach Hoyerswerda. Er beschleunigt das Auto, um den Wohnblock mit den vom Feuer verrußten Wänden und eingeworfenen Fensterscheiben nur klein im Rückspiegel sehen zu müssen. Niemand spricht über die Gewalttaten. Man schafft sich lieber einen Hund an, weil man um seine Sicherheit bangt: "Du hast die Ausländer ja gesehen."
Die Lehrerin schreibt Tobias mit rotem Stift ins Heft: "Du musst gut in der Schule sein, sonst findest du keinen Beruf. Du willst doch nicht so enden wie die Zigeuner und Penner auf der Straße." Auf dem Schulhof ein beständiger, gedankenlos nachgeplapperter Schwall aus Schimpfwörtern: "Missgeburt", "Untermensch", "Scheiß-Kanake". Rietzschel schreibt: "Seine Schule, sein Ort, sein beschissenes Leben." Im Autostau fährt der Familienkarosse ein LKW gefährlich nahe auf. "Kann nur ein Polackenlaster sein", zetert der Vater der Brüder. "Das ist unsere Autobahn. Guckt euch mal eure behinderten Straßen an." Einfach so.
"Bis alles blutet"
Trägt jemand seine Haare bürstenkurz, hat er eine "Frisur wie die Russenkinder", wer schlank ist, wird als "Buchenwaldschablone" verunglimpft. "Jude!", äfft Philipp die Zehntklässler in seiner Schule nach, ohne zu wissen, was das bedeutet. Auf dem Schulhof wird ein Stein mit Hakenkreuz beschmiert, was Philipp anfangs ratlos zurücklässt. "Ähnliche hatte Philipp schon gesehen. Vor allem kleinere. An Parkbänken, an der Bushaltestelle auf dem Markt." Hitler? Ein harmloser Mann im offenen Coupé. "Philipp hatte nur den Computer hochfahren müssen, der neuerdings im Keller stand, und war sofort auf diesen Mann gestoßen, der im Auto mit ausgestrecktem Arm an einer Menschenmenge vorbeifuhr."
Bald grölen auch Tobias und Philipp "Heil Hitler!" Nicht lange, und es bricht aus einem der beiden förmlich hervor: "Und dann will ich auf alles einschlagen, richtig rein mit der Faust, bis alles blutet. Der ganze Mist, den einfach keiner rafft." Die gespielte Aggressivität schlägt in reale Gewalt um, das infantile "Sieg Heil!"-Gejohle in Niederbrüllen und Hetzerei.
Rietzschel behandelt seine beiden Jugendlichen mit viel Verständnis -bis zum Moment ihrer ideologischen Radikalisierung, die in Gewaltbereitschaft mündet. "Ich kann nachvollziehen, weshalb man sich in weiten Teilen Sachsens beengt fühlt, wieso einem hier alles grau in grau vorkommt", sagt Rietzschel. "Wenn kein Bus mehr fährt, keine Arztpraxis und kein Bäcker mehr offen haben, wenn Schweigen an der Tagesordnung steht, diese umfassende bleierne Schwere. Der daraus resultierende Missmut ist mehr als verständlich. Das Pöbeln und Wüten lehne ich ab."
Im Schutz der Dunkelheit schleudern Philipp und seine Freunde Schweineteile gegen die Fenster von Immigrantenheimen, beim verwaisten Schamottewerk werden Plastikflaschen, gefüllt mit Essig und Backpulver, zur Explosion gebracht. Man trifft sich im Wald, bewaffnet mit Softair-Pistolen. Jungmänner in Militärcamouflage, den Häuserkampf am Tag X probend. Ein Mordsspaß. Eine Mörderhetz, untermalt vom Geheul der Geiferer und Eiferer: "Da gibt es Stadtteile, wo du keinen Deutschen mehr siehst. Arbeitslose Kamelficker, die ihre Frauen verhüllen. Die kriegen dumme Kinder wie Heu."
Chemnitz, die Stadt der offenen Feindseligkeit, hat sich für Lukas Rietzschel auch als Ort überraschender Freundschaft erwiesen. Nach den gewalttätigen Demonstrationen fanden 65.000 Besucher bei einem Konzert unter dem Motto "Wir sind mehr" zusammen. "Zum ersten Mal ist eine gesamtdeutsche Solidarität spürbar. Eine junge Generation strömte zusammen, die signalisierte: Wir lassen euch nicht im Stich! Für unsere Großeltern und auch Eltern war Ostdeutschland immer ein Problem für sich, ein Sonderfall der jüngeren Geschichte. Die Stimmung, sich gemeinsam gegen Rechts zu stellen, kann auf den Rest des Landes überschwappen." Das, sagt er, mache Hoffnung.
Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen. Ullstein, 317 S., EUR 20,60