Christoph Schlingensief: "Gesellschaft der Selbstbeschädigten"
Vor ein paar Wochen erst wurde er mit dem Konrad-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet, soeben wurde eine neue DVD-Edition seines Werks gestartet, und das Dorf, das er in Burkina Faso 2009 initiierte, gedeiht; vor zwei Wochen fand an der Universität Bayreuth zudem eine international besetzte Tagung statt, die sich mit der Verbindung von Richard Wagner und Afrika in seinem Werk befasste.
Christoph Schlingensief produziert unaufhörlich neue Nachrichten. Das ist insofern interessant, als er selbst seit fast fünfeinhalb Jahren tot ist. Aber die Ideen, die er in die Welt gesetzt hat, die Projekte, die er erdacht und realisiert hat, sind offenbar stabil; sie überdauern die Zeit. Dennoch fehlt, bei all der scheinbaren Präsenz, die seine Visionen weiterhin genießen, Schlingensief selbst in diesen Tagen schmerzlich: Was wäre ihm zur Misere der Geflüchteten in Europa an theatralen, installativen, performativen und filmischen Unternehmungen alles eingefallen? Wie hätte er mit den Mitteln der Aktionskunst auf die Zumutungen des Terrors des Islamischen Staates, auf Finanzkrise und Pegida reagiert?
Er mobilisierte seinen Zorn im Feld der Kunst und attackierte dort nicht nur seine vielen Feinde, sondern gern auch seine Freunde, sein Publikum und vor allem: sich selbst.
Müßig, sich dies vorzustellen: Denn einen wie ihn gibt es nicht mehr. Schlingensief schüttelte die Grundlagen seines künstlerischen Interventionismus aus dem Ärmel, als sei das alles ganz selbstverständlich, und in gewisser Weise war es das ja auch - für ihn. Er war seiner Zeit um Jahre, möglicherweise Jahrzehnte voraus: Wer sich heute noch einmal Paul Poets "Ausländer raus“-Filmdokument zu Schlingensiefs Wiener Abschiebungs-Container-Performance "Bitte liebt Österreich“ ansieht (es läuft derzeit wieder im Wiener Stadtkino), könnte meinen, eine höchst gegenwärtige öffentliche Reflexion der Ressentiments gegen Asylwerber zu erleben. Tatsächlich fand die Aktion, im Rahmen der Wiener Festwochen, vor mehr als anderthalb Dekaden, im Frühsommer 2000 statt.
Im August 2010 erlag Christoph Schlingensief, erst 49-jährig, seiner Krebserkrankung, nachdem er einige Jahre lang auch diese in seine Weltbetrachtungen, in seine Philosophie des produktiven Scheiterns inkorporiert hatte. Von der eigenen Biografie ging der Sohn eines Oberhausener Apothekers stets aus, er nahm alles, was er tat, radikal persönlich, setzte sich selbst aufs (und jederzeit auch gerne ins) Spiel. Das streng Autobiografische der Schlingensief-Elaborate, das viele für bloßen Narzissmus hielten, machte ihn erst unverwechselbar, es war der Kopierschutz seines Denkens und seiner Kreativität: Nur Christoph Schlingensief selbst konnte die "Gesellschaft der Selbstbeschädigten“, die er um sich sah, so konsequent analysieren und zugleich für diese produzieren.
Er mobilisierte seinen Zorn im Feld der Kunst und attackierte dort nicht nur seine vielen Feinde, sondern gern auch seine Freunde, sein Publikum und vor allem: sich selbst. Dabei war er kein Künstler der "Provokation“, wie ihm simplifizierend oft unterstellt wurde, sondern ein provokanter Komödiant des Anti-Spießbürgerlichen, ein Grenzläufer der heiteren Verstörung. Er provozierte, aber nicht zu Widerwillen, Zorn und Hass, sondern zum Denken.
Er benutzte die jähe Popularität, um seinen Filmbegriff ins Theater, ins Fernsehen, in den öffentlichen Raum zu erweitern.
Das Filmische ist der Kern der Schlingensief’schen Arbeit. Bereits als Achtjähriger stellte er erste Super-8-Filme her, und er blieb dem Medium lange treu. Die Lust am Verstoß wider die Tabus (und wider alle politische Korrektheit) entdeckte er früh. Er assistierte erst dem Avantgardisten Werner Nekes und entwickelte in seinen ersten eigenen Spielfilmen ab 1984 einen anarchischen Low-Budget-Stil, der Amateurschauspiel, Improvisation, Comedy- und Horrorelemente zu gesellschaftspolitischem Kino-Trash kombinierte. Und er wurde, im besten Sinne, immer dreister: 1989/90 machten ihn die Filme "100 Jahre Adolf Hitler - Die letzte Stunde im Führerbunker“ und "Das deutsche Kettensägen-Massaker“ bekannt; er benutzte die jähe Popularität, um seinen Filmbegriff ins Theater, ins Fernsehen, in den öffentlichen Raum zu erweitern.
Ab 1993 stieg Christoph Schlingensief auch in die Bühnenkunst ein, wurde vom Underground-Filmemacher zum angesagten jungen Regie- und Kunststar. An der Berliner Volksbühne, wo Frank Castorf seine Intendanz gerade erst begonnen hatte, setzte er seine ersten Theater-Happenings und Polit-Collagen in Szene: Ereignisse, die sich jeder Nacherzählung verweigerten, weil man sie erlebt haben musste, um zu begreifen, wovon sie handelten. Eigentlich hasse er Theater ja, richtete er aus, insbesondere dessen feste Grenzen, schaffte sie kurzerhand ab und suchte "die gleitende Bewegung“ - auch jene in den Raum außerhalb der geschützten Bühnen, in die Außenwelt.
Die Kirche blieb, als katholischer Erziehungsrest, bis zuletzt das Modell für seine Visionen.
So wurde Schlingensief schnell zum Mann für alle Diskursfälle, zum Durchlauferhitzer ideologischer Abgründe und gesellschaftlicher Verdrängungsmechanismen: In seinen Stücken traten reformwillige Neonazis an, aber auch Obdachlose, Junkies und geistig Behinderte. Der Vorwurf der Ausbeutung kümmerte Schlingensief nicht, er nahm ihn als absehbaren Kollateralschaden achselzuckend in Kauf, auch weil er wusste, dass ihm in seinen zusammengewürfelten Ensembles niemand näher stand als die Außenseiter, die Bemitleideten und Verachteten. Ab 1997, dem Jahr seiner Beuys-Hommage bei der Documenta, intensivierte er die medienkritische Schlagseite seiner Arbeit, konstruierte abwegige Talkshow-Formate fürs Fernsehen - "Talk 2000“ oder auch "U 3000“, eine absurde U-Bahn-Spielshow für MTV, eine herbe Travestie auf die tödliche Flachheit des TV-Entertainment.
Schlingensief zog das "Akausale“ den harmlosen Kausalzusammenhängen des bürgerlichen Kunstverständnisses jederzeit vor, blieb absolut unberechenbar; er brach mit stets verlässlich charmantem Lächeln alle verfügbaren Regeln - und baute sich ein paar neue, immerhin selbst gemachte. Die Kirche blieb, als katholischer Erziehungsrest, bis zuletzt das Modell für seine Visionen: Viele seiner Inszenierungen verwiesen ganz explizit auf den kirchlichen Raum, oft zelebrierte er in den Tempeln agnostischer Hochkultur ungeniert halbklerikale Messen, gleichsam wahnhafte Sonntagsgottesdienste. Mit der von ihm 2003 gegründeten "Kirche der Angst“ verteidigte er das Recht des Individuums auf seine existenzielle Panik. Der bereits vom Krebs geprägte Abend "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ geriet 2008 zu einem seiner Meisterwerke.
Es kommt nur drauf an, wie schnell man denkt.
Er liebte es, Institutionen zu unterwandern, subversiv in die Kunstschutzzonen einzudringen: Er verstörte die Burgtheater-Abonnenten und die Wagnerianer in Bayreuth; einen "Tatort“ hätte er gerne noch gedreht, natürlich "umdefiniert“, wie er das nannte. Die letzten zehn Jahre seines Lebens, zugleich die erste Dekade des dritten Jahrtausends, wurden die künstlerisch spannendsten, er avancierte zum idealen Bearbeiter der Texte Elfriede Jelineks und perfektionierte seine Methode des produktiven Chaos, der multidimensionalen Publikumsüberforderung. Das Fragmentarische sei aber durchaus zu verstehen, entgegnete er Kritikern in seiner letzten Inszenierung - in "Via Intolleranza II“ (2010) -, "es kommt nur drauf an, wie schnell man denkt“.
Wie Joseph Beuys und Bertolt Brecht bestand er darauf, Leben und Kunst ineinander zu blenden, als hochgebildeter und in alle Richtungen versierter wilder Denker. Schlingensief war, wie sein großer Mentor Alexander Kluge, ein Assoziationsgenie, er mochte die Freiheit seines "Halbwissens“ mehr als die Fachidiotie, und er arbeitete gern "ein bisschen wirr“, wie er in einem seiner letzten Interviews im Sommer 2010 noch betonte; es gehe um "Gedankenblitze“, um die Zusammenhänge, die sich etwa zwischen der Genomentschlüsselung, Rudi Dutschke und "Bezaubernde Jeannie“ ergeben konnten. Daran scheiterte er zuweilen auch: Sein letzter Film "African Twin Towers“ (2005) blieb das Fragment einer kollektiven Kreativblockade.
Das eigenwillige, durchaus explosive Gemisch aus Unverfrorenheit und Pathos, das Christoph Schlingensief repräsentierte, wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Schlingensiefs - vielfach missverstandener - Traum eines "Operndorfs“ in Burkina Faso, der sich keineswegs nur um die Errichtung eines Festspielhauses, sondern in erster Linie um soziale Infrastruktur, um die Etablierung eines Brunnens, einer Schule, eines Spitals drehte, wurde in den letzten beiden Lebensjahren des Künstlers zum Zentrum seines Tuns.
Tatsächlich fruchtete der absurd anmutende Versuch, keine 40 Kilometer von der Hauptstadt Ouagadougou entfernt ein "Operndorf“ zu errichten.
Es tauchte in den späten Inszenierungen Schlingensiefs ebenso explizit auf wie in den vielen Kanälen seiner Öffentlichkeitsarbeit. Auch in dieser Hinsicht narrte er die Medien und bediente sie zugleich: Die wie auf Knopfdruck heraufbeschworenen journalistischen Mutmaßungen, dass er mit seinem Plan des kulturellen Ausbaus westafrikanischen Brachlands "im Fitzcarraldo-Wahn“ angekommen sei, dass er offensichtlich Ambitionen habe, "der neue Kinski“ zu werden, bereiteten ihm diebische Freude - weil er wusste, dass ihm auch Missverständnisse dieser Art in seinen Unternehmungen nur behilflich sein konnten.
Tatsächlich fruchtete der - nur von außen betrachtet - absurd anmutende Versuch, keine 40 Kilometer von der Hauptstadt Ouagadougou entfernt ein "Operndorf“ zu errichten: 2010 legte er den Grundstein und die weitere Verantwortung für das Dorf schließlich in die Hände seiner Mitarbeiter. Sein Tod im August 2010 hat den Fortgang der Bauaktivitäten nicht gestoppt. Zwar steht das zentrale Festspielhaus noch nicht, aber die lange erträumte Schule ist inzwischen mit Mensa, Tonstudio und Kinosaal in Betrieb gegangen, es gibt außerdem eine Krankenstation und einen Sportplatz, Bürogebäude und eine Schulmensa.
Spenden sind weiterhin willkommen (Näheres dazu über operndorf-afrika.com), das Vorhaben wird seit fünf Jahren von Schlingensiefs Witwe, der Kostümbildnerin Aino Laberenz, weitergeführt. Die Frage, ob das noch ein Kunstunternehmen sei oder doch eher ein Sozialprojekt, stellt sich hier nicht mehr. Ohne Konzentration auf das Leben selbst wäre die Kunst vollkommen überflüssig.
VIELSTIMMIG Christoph Schlingensiefs ausuferndes Werk ist nun digital neu zu entdecken. Das erste DVD-Konvolut weniger bekannter Arbeiten ist soeben erschienen.
Das rast- und ruhelose Künstlerleben des Christoph Schlingensief hat eine schier unüberblickbare Fülle an Materialien produziert: Es sind bei Weitem nicht nur die Kinofilme, die TV-Produktionen, die Mitschnitte seiner Theaterinszenierungen und die Videos seiner Aktionen, die von der Berliner Filmgalerie 451 - sie zählt seit den frühen 1990er-Jahren schon zu den Basisstationen Schlingensiefs - nun neu ediert werden; es ist eher der Versuch, der Vielstimmigkeit und medialen Omnipräsenz dieses Ausnahmekünstlers gerecht zu werden, indem man sich zur Abwechslung auf seine weniger bekannten Arbeiten konzentriert und die Archive nach raren Fundstücken abgesucht hat.
In der sechsbändigen ersten Tranche dieser neuen DVD-Edition, die ab sofort im Jahrestakt erweitert werden soll, finden sich Bühnenarbeiten ("Atta Atta - Die Kunst ist ausgebrochen“, 2003; "Via Intolleranza II“, 2010), ein früher Spielfilm (die Veit-Harlan-Variation "Mutters Maske“, 1988, mit Helge Schneider und Udo Kier), eine TV-Serie ("U 3000“, 2000), eine Reihe von Drehbühnenaktionen im öffentlichen Raum ("Der Animatograph“, 2005) sowie ein letztes Filmfragment ("The African Twin Towers“, 2005). Darüber hinaus bietet die Box aber auch bislang unveröffentlichte Vortragsmitschnitte, Interviews, Kurzfilme, Backstage-Dokumente und immer wieder Gespräche, die Alexander Kluge mit Schlingensief geführt hat - insgesamt fast 40 Stunden Bild- und Tonmaterial auf zehn DVDs. Erhellend und gewaltig.
Die neue Schlingensief-DVD-Edition bei Filmgalerie 451: Zehn DVDs in sechs Bänden, Gesamtlaufzeit 2358 Minuten. EUR 99,90. Die Edition wird im Herbst 2016 fortgesetzt.