Beim Lesen sind wir allesamt Dilettanten
Vorweg verstreute Zahlen, die Bettina Stangneth mit einiger Skepsis und nicht minderem Schauder nennt: Seit dem 15. Jahrhundert und der Erfindung des Buchdrucks bis zum Jahr 2010 sollen, zitiert die Hamburger Autorin und Kant-Bewunderin in „Club der Dilettanten“, ihrem philosophischen Buch über das Lesen von Büchern, aus einer Studie von Google Books, 129.864.880 Titel erschienen sein, wobei der US-Internetgigant selbst inzwischen bei über 40 Millionen Datensätzen von eingescannten Büchern hält. Nähme man sich wiederum vor, in der British Library, der größten Bibliothek der Welt, bei jedem Buch in den Regalen nur einmal mit dem Zeigefinger über den Rücken zu streichen, eisernes Fasten und Schlafentzug inbegriffen, käme das Buchrückenliebkosen nach gut vier Jahren und mit dramatisch verdickter Hornhaut am Zeigefinger seinem langsamen Ende entgegen.
Man merkt: Das Lesen macht es einem unendlich schwer, ein einzelner lesender Mensch kann die endlosen Bücherberge im Leben nie final durchschreiten. Das Weltmeer an Büchern durchsegeln, um eine weitere kühne Metapher zu verwenden, was durchaus im Sinne Bettina Stangneths geschehen darf, die in „Club der Dilettanten“ nie um sprachliche Bilder verlegen scheint. Doch dazu gleich.
In ihren Büchern nimmt sich Stangneth, 59, gern des Alltäglichen der Menschenwelt an: Denken, Lügen, Sex, Sehen. Es geht um all die Dinge, die einem längst vertraut sind. In ihrer zwischen 2016 und 2019 entstandenen Trilogie „Böses Denken“, „Lügen lesen“ und „Hässliches Sehen“ rückte sie, stets in klarer Sprache und scharfem Denken, allzu Vertrautes aus der Alltagswelt in den Fokus ihres philosophischen Blicks. Es ist immer wieder überraschend, wie Stangneth dem vermeintlich Festgefahrenen und Vorgefassten in ihren Büchern neue, glitzernde Scherben abschlägt: Bereits in ihrem internationalen Bestseller „Eichmann vor Jerusalem“ (2011) hinterfragte sie das unbehelligte, erlogene Leben des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann nach 1945.