Kultur

"Club Zero": Jessica Hausner tritt mit neuem Film in Cannes an

Die Filmemacherin Jessica Hausner sticht gern in die Eiterblasen sozialer Tabus. Ihr neues Werk, das sich mit pervertierten Essgewohnheiten befasst, wird kommende Woche im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes uraufgeführt werden.

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Das fremde Leuchten der Farben in Jessica Hausners Filmen ist das entscheidende Signal ihrer Absicht. Die ganz realen Abgründe, die um uns klaffen, verwandelt die Regisseurin in bunt strahlende Parabeln. Ihr in Minzgrün, Pink und Rot gehaltener Biotechnologie-Thriller „Little Joe“ (2019) etwa kreist um eine im Labor entwickelte, möglicherweise wesensverändernd wirkende Pflanze, deren purpurnes Äußeres zugleich anzieht und abstößt. In Hausners Wallfahrtsgroteske „Lourdes“ (2009) wird das traditionelle Blau des Jungfrauenumhangs in den allgegenwärtigen Marienstatuen zum Leitmotiv. Die Bettdecken und die Zimmervorhänge, sogar die Augen der Heldin weisen jenes wässrige Blau auf: eine minimalistische Farce in Ultra-Marienblau. Ein Spiel mit filmischen Oberflächen wird auch in Hausners Konzeptschocker „Hotel“ (2004) veranstaltet: Über den glühenden Rot- und Grüntönen der Interieurs liegt ein leises Dröhnen, das von nirgendwoher zu kommen scheint.

Intensive Farbe sei „eine Spur, die ins Innere der Filme führt, ein Sprengstoff, der momentan vom Zwang der geregelten Erzählung befreit“. Was die legendäre Kritikerin Frieda Grafe einst über das Kolorit des Kinos sagte, gilt insbesondere für Jessica Hausner, die wie hierzulande keine andere Farbfilme macht. Ihr sechster abendfüllender Film, gedreht am St. Catherine’s College der Universität Oxford und in Wien, heißt nun „Club Zero“. Er stellt, bei einem Budget von rund sechs Millionen Euro, ihre bislang größte Produktion dar. Zum zweiten Mal (nach „Little Joe“ 2019) nimmt Jessica Hausner damit in Cannes am Wettbewerb des bedeutendsten Filmfestivals der Welt teil. Eine neue Lehrerin, gespielt von der Australierin Mia Wasikows-ka („Jane Eyre“, „Stoker“), unterrichtet an einer Elite-Privatschule eine Klasse für „bewusste Ernährung“, wo sie bald radikalen Lebensmittelentzug propagiert. Während der Rest der Lehrerschaft und die Eltern der Zöglinge nicht begreifen, was da passiert, formiert sich ein Geheimbund: Der Club Zero geht in den soziopolitischen Widerstand.

Die wenigen Fotos, die es von diesem Film bislang zu bestaunen gibt, zeigen gelb und sandfarben uniformierte Jugendliche bei kollektiven Ritualen in modernistisch-abweisender Architektur, beim Essen vor praktisch leeren Tellern – und die durch einen sonnigen, von dicht belaubten Bäumen eingefassten Schulhof schreitende Wasikowska in einer orange-roten Textilkombination. Der Film, zu dem gemäß den Regularien des Festivals bis zur Weltpremiere am 22. Mai Stillschweigen verordnet wurde, sei inspiriert von dem Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“, heißt es. Es mache ihr Freude, die Details von Raum und Zeit im Ungewissen zu belassen, sagte die Regisseurin 2019 in einem profil-Interview. „Eigentlich erzähle ich in meinen Filmen immer Märchen. Und die könnten vor oder nach unserer Zeit spielen.“

Predigerin des Essensverzichts

Mia Wasikowska in Hausners "Club Zero".

Wie Prometheus gefühlt

Mit 16 schon, Ende der 1980er-Jahre, hat Jessica Hausner selbstgeschriebene Kurzgeschichten verfilmt, mit der klobigen Videokamera der Eltern ihres damaligen Freundes: Das Schreiben konnte sie nie ganz zufriedenstellen. Als „unglaublich beglückend“ empfand sie es damals, eine eigene Wirklichkeit, eine eigene Welt erfinden zu können mit einem Drehbuch, einer Kamera und ein paar Darstellern. Wie Prometheus habe sie sich gefühlt – und beschlossen, Filmregisseurin zu werden.

Sie ging an die Wiener Filmakademie und begann zu arbeiten. Ihre Werke sind Familienangelegenheiten: Tanja Hausner, die als Kostümbildnerin auch mit Ulrich Seidl, Markus Schleinzer und Anja Salomonowitz arbeitet, gehört seit dem ersten Kurzfilm ihrer jüngeren Schwester („Flora“, 1995) zu deren entscheidenden kreativen Partnerinnen. An der Kamera steht stets Martin Gschlacht, mit dem gemeinsam sie vor bald zweieinhalb Jahrzehnten das Produktionsunternehmen Coop99 gegründet hat. Die Ausstatterin Katharina Wöppermann ist seit Hausners Langfilmdebüt „Lovely Rita“ (2001) in ihrem Team, die Cutterin Karina Ressler seit „Hotel“. Géraldine Bajard, seit „Lourdes“ als Dramaturgin an Bord, ist inzwischen Hausners Co-Autorin. Die Regisseurin braucht diese Stabilität. Es sei für sie undenkbar, etwa ohne ihre Schwester oder ohne Gschlacht zu arbeiten, da gehe es um nichts weniger als „eine gemeinsame Sprache“.

Suicide-Dating mit Heinrich von Kleist

2014 gelang ihr mit dem radikal entstaubten Historiendrama „Amour fou“ ihr bislang bester Film, der von einem Suicide-Date mit Heinrich von Kleist anno 1811 erzählt: eine feingliedrig ästhetisierte Fantasie über die letzten Monate im Leben eines todessehnsüchtigen Dichters. Hausner nennt sich selbst eine Perfektionistin, die um absolute inszenatorische Klarheit kämpfe. „Das ist fast wie ein Ballett, wie eine Choreografie. Wir planen jede Bewegung voraus. Umso dringender brauche ich Leute vor der Kamera, die sich in einem derart strengen System nicht eingeengt fühlen, trotzdem ihre Kunst entfalten können. Sie dürfen sich von der Rigorosität meiner Inszenierung nicht irritieren oder hemmen lassen. Sie müssen dagegen auch angehen. Denn wenn die nur machen, was ich vorgebe, wird es fad.“

Im Zuge ihrer künstlerischen Globalisierung wurde auch die Produktionstätigkeit komplizierter: Nach dem in Frankreich gedrehten Film „Lourdes“ war „Little Joe“ ihre erste englischsprachige Koproduktion, „Club Zero“ nun ihre zweite. Hausner begreift sich als europäische Autorenfilmerin; tatsächlich hat sie nie Filme über Österreich gedreht, ihr Schaffen schien, auch wenn es hierzulande entstand, über das Hiesige stets konsequent hinauszudenken.

Jessica und Tanja Hausner entstammen einer streng künstlerisch gestimmten Familie: Ihre Halbschwester Xenia Hausner ist eine prominente Malerin, und der Einfluss ihres Vaters, des 1995 verstorbenen Wieners Rudolf Hausner, eines zentralen Vertreters des Phantastischen Realismus, und ihrer Mutter Anne, die ebenfalls Malerin ist, hat die Berufswahl der Töchter wohl beeinflusst: „Tanja und ich mussten uns schon als Kinder ständig mit bildender Kunst und visuellen Fragen auseinandersetzen“, erzählt die Regisseurin. „Wir machten keine Urlaube am Strand, sondern Ferien in Museen. Wir fuhren etwa drei Tage in den Prado, nicht irgendwohin ans Meer. Wir arbeiteten uns langsam durch die Säle. Mein Vater konnte eine Stunde vor einem Gemälde stehen, das ihn interessierte; er hat es uns erklärt, die Kompositionen erläutert oder die Ereignisse im Bild erzählt. Wir haben uns das halt angehört, in der Hoffnung auf spätere spannendere Freizeitgestaltung, aber so kam die Kunst in uns hinein.“

Das Kino habe ihr Vater übrigens auch geliebt, erinnert sie sich noch, „insbesondere Akira Kurosawa, der ja von der Malerei kam“; die Filme Ingmar Bergmans mochte er ebenfalls sehr.

Nur eine Perspektive

Die „Wirklichkeit“ ist in Jessica Hausners Filmen ungewiss, die „Wahrheit“ stets in Zweifel zu ziehen. Auf eine unverrückbare materielle Realität allerdings legt sie Wert: die des Kinos. „Ich entlarve gern die jeweilige Kameraposition, indem ich etwa Menschen aus dem Bild gehen lasse, ihnen nicht folge, sie aber weiterreden lasse; oder ich inszeniere eine Kamerafahrt auf zwei Personen zu, die aber dann an diesen vorbeiführt. Das hat auch einen komischen Effekt.“ Es berühre sie, als Zuschauerin wahrnehmen zu können, dass das im Kino Gezeigte nur der Ausschnitt einer Welt sei: Es sei „tatsächlich nur eine Meinung, eine Position, eine Perspektive“.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.