Theater-im-Keller-Intendant Haidacher: "Lebenssinn beschnitten"
Corona

Wie sehr wurde die Regionalkultur in Mitleidenschaft gezogen?

Was erwarten sich Trachtenvereine, Kulturhäuser und Kellertheater von den Öffnungsschritten? Eine Spurensuche von Vorarlberg bis in die Steiermark.

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Irgendwann hat Alfred Haidacher aufgehört, die Murmeltiertage zu zählen. So nennt er die Zeitspanne seit März 2020, den Stillstand nach dem ersten Lockdown. Wie Bill Murray in der Komödie "Groundhog Day" wähnte Haidacher sich in einer Zeitschleife, in der er denselben Tag wieder und wieder erleben musste: keine Premieren, kein Publikum, keine Aufführungen, kein Applaus. Für Haidacher, Jahrgang 1962, ein herber Schlag: Seit 40 Jahren ist er dem "Theater im Keller" in der Grazer Münzgrabenstraße als Schauspieler, Regisseur, Dramaturg und Intendant verbunden, er ist das Gesicht des "Tik", das 1951 gegründet wurde und in vielen Chroniken als eines der ältesten freien Theater aufscheint. Martin Kušej, Franz Morak und Wolfram Berger hätten am "Tik" ihre Berufslaufbahn begonnen, ist auf Wikipedia zu lesen.

Der Theatermacher Haidacher ist ein Mann heiterer Ironie: Kommt die Sprache auf die lange erwarteten Öffnungsschritte für die Kultur in Österreich an diesem Mittwoch, zaubert er von der Hinterbühne des "Tik" ein ausgestopftes Murmeltier hervor. Während des Lockdowns konnte man das Theaterteam mit dem Stück "Die Vertriebenen" in Graz unter strengen Sicherheitsauflagen zu sich nach Hause bestellen. Nicht nur die 70-Jahr-Feier fiel der Pandemie zum Opfer.

Der rote Fischgrätboden, der in das Kellertheater führt, ist von Blättern und Dreck verschmutzt. Zögerlich kehrt nach dem Lockdown Leben ins "Tik" zurück. Eine Premiere ist geplant, Haidacher selbst voller Tatendrang. "Der Lebenssinn war beschnitten", rekapituliert er die Zeit der Sperre: "Die Evidenz der Pandemie war uns immer bewusst. Was mich massiv gestört hat, war das verächtliche Herabblicken der Politik auf die Kunst-Kulturinstitutionen wurden ähnlich behandelt wie Bordelle und Wettbüros. Kultur war das Unwichtigste."

Als Geschäftsführer hat Haidacher viele Zahlen parat. Bundes-, Landes-, Stadtzuschüsse. Einzelförderungen. Jahressubventionen. Umsätze und Gewinne. Die 1814,56 Euro aus dem in der Corona-Krise eingerichteten NPO-Fond der Bundesregierung. Haidachers Aufzählung könnte sehr detailreich weitergehen, aber es genügt zu wissen, dass das "Tik" bis Ende des Jahres finanziell gut aufgestellt ist. "Wenn es aber so weitergeht, ohne Einnahmen und rasche Zahlung der Subventionen, ist die Kassa am Ende des Jahres leer."

Er sei der Chef und müsse guter Dinge sein, sagt Haidacher mit Blick auf das erstarrte Murmeltier. Dann gibt er einem noch eine Songzeile der australischen Band The Triffids mit auf den Weg: "If you cannot run, then crawl. "Wenn das Laufen unmöglich ist, bleibt immer noch der Kriechgang. Im Grazer Theaterkeller entfaltet sich in kleinem Maßstab der schwierige Umgang mit den Öffnungsschritten von Gastronomie, Tourismus, Kultur und Sport. Das "Tik" steht exemplarisch auch dafür, wie es nach dem pandemiebedingten Stillstand weitergehen soll. Ähnliches ist in einem Kulturzentrum in Dornbirn und von Mitgliedern einer Blasmusikkapelle in Lustenau zu erfahren, von verwandten Problemen berichten die Obmänner des Innsbrucker Bezirkstrachtenverbands. In die Erleichterung, endlich wieder Theater und Musik spielen, Veranstaltungen und Brauchtumsfeiern ausrichten zu können, mischt sich die Sorge um die Zukunft. Die Unwägbarkeiten laufen in vielen Fällen auf die Frage hinaus, ob das von der Politik mantraartig beschworene Licht am Tunnelausgang doch nur ein mattes Flackern sein könnte.

Der Dornbirner "Spielboden" ruht an diesem Montagvormittag seltsam stoisch inmitten eines Areals betriebsamer Geschäftigkeit. Auf dem ehemaligen Gelände der Textilfabrik Rhomberg im Nordwesten der Stadt sind zahllose Firmen und Organisationen untergebracht, ein Kommen und Gehen. Ein alphabetisches Leitsystem soll helfen, sich im Gewirr der Gassen und Plätze einigermaßen zurechtzufinden. Vorarlbergs größtes Kulturzentrum mit 1,2 Millionen Euro Gesamtbudget, das vor 40 Jahren gegen viel Widerstand der Lokalpolitik gegründet wurde, liegt in Trakt D, neben der denkmalgeschützten Turbine, im Schatten des stillgelegten, steil aufragenden Schornsteins. Im Kino und im großen Saal des "Spielboden" herrscht seit Monaten menschenleere Tristesse, das Lokal hat in der "Modellregion" immerhin geöffnet. "Wirtschaftlich werden wir das irgendwie packen", sagt Heike Kaufmann, 44, seit drei Jahren "Spielboden"-Geschäftsführerin: "Das Publikum wird uns nach der Öffnung aber nicht die Bude einrennen. Viele gewachsene Strukturen wurden in der Pandemie zerstört, es herrscht Verunsicherung." Kurze Pause: "Corona hielt einen zugleich aber auch irgendwie in Bewegung, die einen hoffentlich nicht mehr in den alten Trott verfallen lässt."

Wenn es nach den Subventionen geht, wird der Spielboden mit einem blauen Auge davonkommen, aber auch das kann täuschen. Die Folgen der Pandemie haben verwirrend viele Facetten: "Vielleicht braucht es Jahre, bis ein halbwegs normaler Kulturbetrieb wieder möglich sein wird. An große Konzerte ist derzeit nicht zu denken." Heike Kaufmann wird weiter auf der Grenze zur Überforderung balancieren.

Womit man bei Martin Fitz, Tim Gappmeier und Josef Eberle wäre, die in gebotenem Abstand im Heim des Lustenauer Musikvereins Concordia sitzen, eine gute Autoviertelstunde vom "Spielboden" entfernt. Im Proberaum sind mattsilbrige Markierungen über den Boden verteilt, Abstandshalter aus dem ersten Lockdown. "Musikverein" sagt in der Gemeinde am Rhein kaum jemand, die meisten wissen, was mit "Concordia" gemeint ist: Blasmusikkapelle, 1899 gegründet, derzeit rund 60 Aktive, viel Tradition, reges Vereinsleben. Mit schwarzen Abdeckplanen verhüllte Instrumente illustrieren, was den Kern der Pandemie ausmacht: Seit über einem Jahr herrscht hier bedrückende Stille. Es hat sich ausgespielt, und das "Sandarfäscht" ist zum zweiten Mal abgesagt. Das von der Concordia in der Sandstraße seit einem halben Jahrhundert ausgerichtete "Sandarfäscht" ist eine Art lokales Oktoberfest, eine Drei-Tages-Party mit Musik und Menschenmassen. "Es fehlt", sagt Gappmeier.


Der Saxofonist Fitz, 38, ist seit zwei Jahren Vereinsobmann; Trompeter Eberle, 66, ist seit Mai 2019 bei der Concordia. Sein Amt als Kapellmeister hat er bislang kaum ausgeübt. Gappmeier, 19, spielt Oboe sowie Posaune und ist seit September 2019 Jugendkapellmeister. Überschießende Vorfreude sieht anders aus, die Erwartungen für die Zeit nach der Öffnung sind schaumgebremst. "Im März 2020 wurden wir von 100 auf null eingebremst",erinnert sich Obmann Fitz: "Gewiss, wir freuen uns aufs Musizieren und ein Vereinsleben, das diesen Namen verdient. Nach dem jähen Bremsmanöver können wir aber nicht nahtlos an dem Punkt fortsetzen, an dem wir jählings so gut wie alle Aktivitäten einstellen mussten. Wir werden, fürchte ich, in Kriechgeschwindigkeit losstarten."

Die Pandemie lässt sich auch in Lustenau in Zahlen fassen, wirklich fassbarer wird sie damit nicht: Mit bis zu 15.000 Euro wird der Verein jährlich von der Gemeinde gefördert, der NPO-Fond schüttete 11.000 Euro aus. "Wir verfügen über einen soliden Finanzpolster",sagt Obmann Fitz: "Dennoch ist unklar, welche Schäden die Instrumente durch die lange Ruhezeit genommen haben. Seit Monaten haben wir keine Noten angeschafft, keinerlei Investitionen getätigt."Angst, sagt Fitz, sei das falsche Wort, um zu beschreiben, was er empfinde, wenn er an die unmittelbare Zukunft der Concordia denke. "Nennen wir es Unsicherheit",hilft ihm Kapellmeister Eberle aus.

Was direkt zu Alexander Weber und Patrick Plank führt. "Es ist für mich fast schon ungewohnt, Tracht zu tragen",klagt Plank in kehligem Tirolerisch auf dem Innsbrucker Landhausplatz. Weber, 48, ist Obmann des Bezirksverbands Innsbruck mit rund 3000 Trachtlerinnen und Trachtlern, Plank sein Stellvertreter, dazu Bezirksvortänzer und Obmann des Trachtenvereins Inntaler Thaur. Beide sind an diesem Mittwochmittag ohne Tracht unterwegs, wie seit Monaten. "Immerhin konnten wir den Maibaum aufstellen, das obligate Fest durfte natürlich nicht stattfinden",erinnert sich Plank.

Wenn man Weber und Plank längere Zeit zuhört, bekommt man eine Ahnung von der Schnittmenge, die ihr Hobby ausmacht: Bälle, Brauchtum, Feste, Fasnacht, Kindernachmittage, Maibaumfeiern, Messen, Umzüge, Seniorenausflüge sowie Schuhplatteln. Gerade das Schuhplatteln ist eine körperbetonte Fertigkeit in engem Zusammenspiel mit anderen. Die Öffnungsvorschriften schreiben 20 Quadratmeter pro Tänzerin und Tänzer vor. "Den Gemeindesaal können wir für unsere Proben wohl kaum mieten",sagt Plank. Was brächten da die Öffnungen, stellt er die rhetorische Frage, die er sich gleich selbst beantwortet: "gemischte Freuden".

Die weitreichenden Nachbeben von Corona lassen sich am Beispiel des Trachtenverbands gut beleuchten: Das geplante Bezirkstrachtenfest kommenden Juni mit bis zu 3000 Besucherinnen und Besuchern wurde bereits abgesagt, für den Ball im Oktober besteht Resthoffnung. "Wir mussten und müssen lernen, dass es null Planungssicherheit gibt", sagt Obmann Weber: "Man muss flexibel agieren, sich nicht unterkriegen lassen, größere Ausgaben wie eine neue Tracht, die bis zu 3000 Euro kosten kann, zeitlich nach hinten verschieben." Es werde schon wieder, versprüht Weber gelinden Optimismus.

Bald kann der Bezirksvortänzer Plank seine Tracht wieder aus dem Kleiderschrank holen. Auf einer Beerdigung wird eine Abordnung seines Vereins einen langjährigen Trachtler auf dessen letztem Weg begleiten.

 

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.