Hans Platzgumer

Hans Platzgumers Lockdown-Logbuch: Sperrzonenleben (V)

Der Tiroler Schriftsteller, Musiker und Produzent Hans Platzgumer schreibt seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen an einem Lockdown-Logbuch. profil veröffentlicht Auszüge.

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Die Welt, die mich umgibt, ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Nicht länger sind wir locked down, nur locked in. Innerhalb einer abgezäunten Welt ist Österreich unsere kleine Spielwiese geworden, und zumindest hier fährt, scheint’s, alles wieder los, das fahren darf und fahren kann. Wir tragen den Lärm und die Abgase zurück in die Welt, Sprit ist billig wie nie, jeder, der eingesperrt war, strömt hinaus. Jeder – außer denen, die resigniert haben, und von denen wir auch in Statistiken nichts lesen – tut, was er irgendwie tun kann, weil er das Nichtstun nicht mehr will.

Auf dem Platz unter meinem Fenster stehen sich Menschen mit ein, zwei, drei, vier Metern Abstand gegenüber und rufen sich Smalltalk zu. Manche vermuten wohl, dass sich Coronaviren auch über Mobiltelefone übertragen, denn sie sitzen auf einem Mauervorsprung, haben das Handy auf Lautsprecher und maximale Lautstärke gestellt und halten es mit gestrecktem Arm von sich. Zum Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung wird ein halber Meter extra Social Distancing herausgeschunden. Nur wenn sich die Leute ihre wieder und wieder verwendeten Einwegschutzmasken überstülpen, werden sie wortkarg. An der Wursttheke findet kein Pläuschchen mehr statt, dafür im Freien das Sich-Überbrüllen.

Da wir weder wissen, was verboten oder erlaubt ist, noch, was wir eigentlich tun sollen, ja was denn überhaupt geschehen ist, geschehen wird, geschehen soll, rennen wir planlos herum. Die Entschleunigung der vergangenen Wochen wird zur unbeholfenen Beschleunigung, die Untätigkeit zur Wiederbetätigung. Genau jetzt wäre Steuerung vonnöten, damit unsere Überfluss- und Wegwerfgesellschaft nicht sofort in alte Muster zurückkippt und unreflektiert dort weitermacht, wo sie Mitte März jäh unterbrochen wurde. Fünf Wochen Stillstand hätten mehr sein können als einfach Bewusstlosigkeit. Doch was ich in Woche sechs beobachte, mutet nicht wie ein neues Bewusstsein an, eher wie der Beginn einer unkoordinierten Aufholjagd.

Wie früher fehlt uns jetzt schon wieder die Zeit, um die Dinge zu durchdenken und ein wenig Klarheit in die undurchschaubare Welt zu bringen. Zeit ist verloren gegangen. Wir begeben uns auf die Suche. Doch es scheint keine Suche nach neuen Ansätzen, sondern ein Sich-Sehnen nach Wiederherstellung zu sein. War der Lockdown kein Erweckungserlebnis, keine Madeleine, die wir in eine Tasse Tee getaucht haben? War er einfach nur Verlust, ohne Mehrwert, ohne Gewinn? Hätte er nicht – wie für Proust –Startschuss einer Suche nach Sinn und Wahrheit werden können? Quatsch!, höre ich Leute schreien. Proust ist über 100 Jahre her, zählt nicht mehr, hat eigentlich nie gezählt. Eine Katastrophe hat noch nie die Welt verbessert. Wir haben Zeit und das heißt: Geld verloren. Das müssen wir wieder reinholen und zwar so schnell wie möglich. Für feinsinniges Reminiszieren ist jetzt nicht der Augenblick. Packen wir es lieber an wie damals, als die Wirtschaft zuletzt derartig am Boden lag, volle Kraft voraus. Produzieren, konsumieren, um den Rest kümmern wir uns ein anderes Mal.

Schon schiebt der große Koalitionspartner die ökologischen Interessen des kleinen weg. Schon gehen die Sticheleien auch intern los. Die Nach-Coronazeit ist eingeläutet. Die neue Welt soll wie die alte sein, und zwar unverzüglich. Die Fehler der Vergangenheit wollen wiederholt werden. Der Massentourismus wird so schnell wie möglich wieder reingekarrt, denn ohne die deutschen Urlauber stehen die Hotels in Ischgl leer. Und Kultur? Ja, die hochkulturellen Großevents müssen irgendwie gerettet werden, sie bringen Touristen ins Land. Und diese anderen Künstler können sich ja online verwirklichen.

Das Vermögen des reichsten Menschen der Welt stieg dank Corona um weitere 30 Milliarden Dollar. Jeff Bezos ist too big to fail. Die meisten von uns sind es nicht.

Ich selbst gehöre zu diesen anderen, verwirkliche mich selbst seit über drei Jahrzehnten, wahlweise lieber offline als online. Jetzt schreibe auch ich Blogs und mache YouTube- Lesungen. Ich habe um ein 1000-Euro-Corona-Arbeitsstipendium angesucht, es wäre mehr oder weniger die erste Förderung, die ich je vom Staat bekäme. Mit den wegbrechenden Einkommensquellen sieht es danach aus, als müsste ich auf meine alten Tage zum Bittsteller werden. Brauche ich Almosen vom Staat? Wenn er mir die Möglichkeit nimmt, Geld mit meiner Tätigkeit zu verdienen, dann ja, immerhin zahle ich seit Jahrzehnten mehr Steuern, als mir lieb ist. Doch braucht Österreich solche Spinner wie mich überhaupt? Hat es uns jemals gebraucht? Wenn jetzt aufgeräumt wird, wo wird die Trennlinie zwischen nützlich und nicht nützlich gezogen?

Die Coronakrise hat das Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich auf grausame Weise vorangepeitscht. Die Verlierer unseres Weltensystems verlieren nun doppelt, dreifach, verlieren alles, in kürzester Zeit. Das Vermögen des reichsten Menschen der Welt stieg dank Corona um weitere 30 Milliarden Dollar. Jeff Bezos ist too big to fail. Die meisten von uns sind es nicht.

Ich dachte in den vergangenen Tagen darüber nach, diesen Sommer als Senner auf einer Alm meinen ganz persönlichen Neustart zu machen. Die harten Jobs da oben im Gebirge werden fast nur mehr von osteuropäischen Saisonarbeitern verrichtet. Nun aber dürfen diese nicht mehr ins Land, jede Menge Stellen sind frei. Ich könnte 2000 Euro im Monat verdienen, hätte einen 24-Stunden-Arbeitstag, 7 Tage die Woche, ohne den üblichen Komfort der Wohlstandsgesellschaft. Wenn ich nur handwerklich und im Umgang mit Kühen etwas geschickter wäre, könnte das ein neues Betätigungsfeld für mich werden. Doch ich kann Käse nicht ausstehen, überhaupt: Ich bin ich kein Anpacker, sondern ein verweichlichtes, vergeistigtes Etwas, das jeden Tag aufs Neue erwartet, von der Muse geküsst zu werden.

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