Szenenbild aus "Systemsprenger"

"Crossing Europe": Gesprengtes System

Die Strenge des Islam, Putins langer Schatten und ein Jahrhundertfilm aus Deutschland: Die 16. Ausgabe des Linzer Filmfestivals Crossing Europe präsentierte politisch Erhellendes und ästhetisch Wagemutiges.

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Das filmische Zentralmassiv dieses Festivals: Thomas Heises 218-minütiges Epos „Heimat ist ein Raum aus Zeit“. Angelegt als Passage durch mehr als hundert Jahre finsterer deutscher Geschichte, webt der Film die persönliche Geschichte der Intellektuellenfamilie Heise souverän in den trügerisch ruhigen Fluss der Historie, in dem sich eines aus dem anderen ergibt – von den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg über den Naziterror bis in den Alltag der DDR (und weiter in die Gegenwart) erzählt Heise anhand von Briefen, Tagebucheintragungen und anderen hinterlassenen Texten seiner Eltern und Großeltern, und er illustriert die von ihm selbst eingesprochenen Texte mit alten Fotos, ruhigen Zugfahrten und metaphorisch zu lesenden Landschaftsbildern. Heise selbst sagt, er habe keinen historischen Film gedreht, sondern ein Werk über uns, jetzt, hier. Im November wird diese monumentale, berührende Arbeit ihren Österreich-Filmstart erleben.

Dringliche Kinobilder

Crossing-Europe-Gründerin und -Intendantin Christine Dollhofer hat ihr Festival auch im 16. Jahr seines Bestehens mit dringlichen Kinobildern ausgestattet, die nicht nur – etwa mit der fulminanten Werkschau des spanischen Spielfilm-Konzeptualisten Jaime Rosales – neue Perspektiven auf den europäischen Autorenfilm eröffneten, sondern auch aktuelle politische (Schief-)Lagen zu begreifen und zu erhellen verstanden. Der aus Russland stammende, heute in Riga lebende Dokumentarist Vitaly Mansky brachte einen Film über die Vergangenheit Wladimir Putins mit nach Linz: Fast 20 Jahre alt ist das – bislang weitgehend unveröffentlichte – Material, das er als embedded journalist von Russlands Langzeitpräsidenten einst drehte; mit dem Rücktritt Boris Jelzins beginnt diese Erzählung, die Mansky „Putins Zeugen“ nannte – eine Studie des sich entwickelnden autoritären Charakters Putins und seines politischen Umfelds, das ihm zum Wahlsieg verhalf.

Zwei starke, naturalistisch gefärbte Werke aus Deutschland standen im Mittelpunkt des Spielfilmprogramms, in dem „Oray“, das Debüt des Regisseurs Mehmet Akif Büyükatalay, von den massiven Eingriffen des Islam in das Beziehungsleben von deutsch-türkischen Muslimen berichtet, während Nora Fingscheidts bereits bei der Berlinale akklamiertes Drama „Systemsprenger“ sich um eine traumatisierte Neunjährige (drastisch dargestellt von Helena Zengel) dreht. Formal durchaus konventionellen Filmen wie diesen standen jedoch eine Reihe exzentrischer Produktionen gegenüber – und zur Entdeckung bereit. Die virtuos in Szene gesetzte, streng analog gedrehte Fischerdorf-Farce „Bait“ des jungen Briten Mark Jenkin beispielsweise sorgte für große Momente filmischer Stilisierung: als träfen die liebevoll gearbeiteten Retro-Kinowelten des Kanadiers Guy Maddin auf den italienischen Neorealismus. Ein wie aus der Zeit gefallener Film, der das europäische Kino in ganz neuen, ungeahnten Menschen- und Weltsichten erstrahlen lässt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.