Autor Kehlmann: "Die schlimmsten Dinge finden im Verborgenen statt"
Daniel Kehlmann, 42, navigiert souverän durch New York, diesen wunderbaren Irrgarten aus Konsum und Schönheit, Energie und Event, Architektur und Menschenmassen, Tumult und Grazie, Expressivität und Emotion. Seit drei Jahren lebt der Schriftsteller mit seiner Familie in Manhattan, am Philosophie-Department der New York University hat er eine Gastprofessur. In der US-Metropole entstanden auch weite Teile seines jüngsten Werks: "Tyll", randvoll mit schillernden Figuren und kühnen Wendungen, ist wie Kehlmanns Bestseller "Die Vermessung der Welt" (2005) zugleich Historienbuch und von Pseudopsychologisierung befreites Prosaexperiment, ein lesenswerter Roman, der dem habituell als finster verschrienen Mittelalter humoristische Seiten und der Till-Eulenspiegel-Saga überraschend neue Facetten abgewinnt. Der manchmal gar nicht so weise Narr mit zerbeulter Kapuze, der Eseln das Lesen beibringt und Seiltanz als Kunst etabliert, darf in "Tyll" Könige ungestraft beschimpfen und dem beleibten Grafen dessen Körperfülle unter die Nase reiben: "Du fetter Knödel!"
Mit langen Schritten betritt Kehlmann an einem sonnig-eisigen Dezembervormittag das Café Lafayette und bestellt eine Kanne Grünen Tee.
INTERVIEW: WOLFGANG PATERNO
profil: Herr Kehlmann, reden wir über Amerika. Kehlmann: Sehr gern!
profil: Wir müssen aber auch über den erratischen Mann im Weißen Haus sprechen. Noch immer erfreut? Kehlmann: Ist wohl unvermeidbar. Trump dominiert hier jeden einzelnen Augenblick. Er ist wie ein Schatten, der sich über die Gespräche legt.
profil: Trump als personifizierter Alptraum? Kehlmann: Es ist ja nicht Trump allein. Durch die Entwicklung der Republikaner sind in den USA die politischen Abläufe regelrecht dysfunktional geworden. Ich habe inzwischen den Punkt erreicht, an dem mir Granden wie Mitch McConnell und Paul Ryan, der Sprecher des Repräsentantenhauses, fast noch widerwärtiger sind als der Präsident selbst. Die Republikanische Partei hat ja schon vor Trump einen Rechtsruck vollzogen, der sie an einen Ort außerhalb des demokratischen Spektrums katapultiert hat. Man fragt sich, wie in Amerika politische Verständigung überhaupt noch in Gang kommen soll.
profil: Das traditionelle US-System mit zwei großen Parteien ist dabei nicht sehr hilfreich. Kehlmann: Der entscheidende Moment wird 2019 kommen, wenn der Supreme Court die Entscheidung über das "Gerrymandering" treffen wird. Das ist eine komplizierte Angelegenheit und deshalb der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln: Nach mathematischen Modellen werden die Grenzen der Wahlkreise neu gezogen, sodass durch das geltende Mehrheitswahlrecht die Republikaner praktisch immer gewinnen.
profil: Ein Verfahren, mit dem sich die Republikaner auf Jahre hinaus die Macht sichern könnten. Kehlmann: Das wird die große Weichenstellung sein. Wenn der Supreme Court entscheidet, dass es mit den Wahlkreisen so wie bisher weitergehen darf, kann die Macht der Republikanischen Partei kaum noch durch Wahlen gebrochen werden, und die Republikaner hätten natürlich auch keinen Grund, sich zu reformieren. Der demokratische Wettstreit wäre weitgehend aufgehoben.
profil: Malen Sie die Zukunft nicht in zu düsteren Farben? Kehlmann: Amerika hat immer die Fähigkeit gehabt, sich selbst zu erneuern. Diesmal aber hängt es wirklich am Supreme Court. Man ist hier täglich mit der absurden Politik von Trump und seinen Republikanern konfrontiert: der Steuerreform, die nur den ganz Reichen nützt, den Versuchen, Klimaschutz und Krankenversicherung abzuschaffen. Amerika ist nicht mehr das Land, mit dem wir aufgewachsen sind.
Ein großer Teil dieses Landes hat Trump gewählt, natürlich verändert sich dadurch das seelische Verhältnis, das man zu dem Land hat.
profil: Ihre Liebe zu den USA ist spürbar abgekühlt. Wie gehen Sie als jemand, der in New York lebt, damit um? Kehlmann: Wäre Amerika ein Mensch, ich würde ihn schätzen und bewundern. Das habe ich lange Zeit auch so gehalten, und das ist auch immer noch so. Nun stellt sich aber heraus, dass diese Person jemanden auf besonders hässliche Weise umgebracht hat. So geht es mir mit den USA. Es gibt gewisse Charakterzüge, die an diesem Menschen noch bewundernswert sind. Aber über seine Untat kommt man schwer hinweg. Ein großer Teil dieses Landes hat Trump gewählt, natürlich verändert sich dadurch das seelische Verhältnis, das man zu dem Land hat.
profil: Die fünf Buchstaben TRUMP haben sich von der Person dieses Namens bereits förmlich gelöst. Kehlmann: Richtig, in der öffentlichen Wirkung ist Trump eigentlich keine Person mehr, sondern eine diffuse Gestalt aus Wut, Angeberei und Niedrigkeit. Sein Name ist kein echter Name mehr. Kein Romanautor hätte sich das ausdenken können, weil wir uns nicht trauen, etwas so Plattes zu erfinden. Aber manchen Menschen fehlen offenbar entscheidende Teile des Seelenlebens. In dieser Hinsicht ist es bei Trump wohl ähnlich wie bei Hitler.
profil: Wie bei Hitler? Kehlmann: Ich stelle die beiden natürlich nicht auf dieselbe Stufe, Gott bewahre. Aber Hitler hat diesen merkwürdigen Effekt: Sobald man seine Biografien liest, fragt man sich unwillkürlich: Wo versteckt sich nun eigentlich der Mensch? Aber den findet man nicht. Ein Teil von dem, was komplexes Seelenleben ausmacht, fehlte bei Hitler offensichtlich. Das muss nicht zwangsläufig bei Diktatoren so sein - Stalin war anders, Mao auch. Trump ist natürlich nicht Hitler, aber in dieser einen Hinsicht ist der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten einigen Erzbösewichten der Geschichte doch ähnlich. Man hat bei Trump offenbar noch nie Nachdenklichkeit oder echten Humor gesehen, niemand weiß von Gesten der Nettigkeit zu berichten. Man müsste vieles dazuerfinden, wenn man ihn zu einer Figur in einem Roman machen wollte, man müsste Menschlichkeit hinzufügen.
profil: Jetzt verzerren Sie ihn aber fast schon ins Karikaturhafte. Kehlmann: Das ist ja das Faszinierende - er hat sich selbst zur Karikatur verzerrt. Er war nicht immer so! In Interviews aus den 1980er- und 1990er-Jahren erschien er auch nicht gerade als angenehmer Zeitgenosse, aber dennoch völlig anders als heute. Sehen Sie es sich auf YouTube an, er war leise, fast zurückhaltend, konnte lange Sätze bilden, hatte einen gewissen Charme. Er war damals schon ein schrecklicher Mensch, der viele, die für ihn arbeiteten, betrogen hat. Trotzdem war er anders.
profil: Und der Trump von heute? Kehlmann: Der Trump, den wir heute erleben, ist sicher auch ein Produkt von Demenz und mentalem Verfall. Inzwischen sagen das ja auch viele besorgte Psychologen öffentlich. Wahlkampf und Präsidentenamt haben den Prozess beschleunigt.
profil: Sind Sie ihm in New York je persönlich begegnet? Kehlmann: Nein. Man trifft aber immer wieder Menschen, die ihn von früher kennen - und die alle unisono erzählen, er sei schon immer ein unangenehmer Kerl gewesen. Was immer wieder zur Sprache kommt: Er hat stets gelogen, selten seine Schulden bezahlt.
profil: Nimmt Amerika gerade nachhaltig Schaden? Kehlmann: Wenn man kurz davon absieht, dass Trump dabei ist, die Welt zu ruinieren, ist es ganz lustig, ihm zuzuhören. Sobald man sich aber daran erinnert, dass er mit seinen verwirrten Sätzen Kriege erklären und Verträge aufheben kann, wird es schwer erträglich. Amerika hält im Inneren ganz gut stand, die berühmten Checks and Balances, die Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere Staatsorgane, funktioniert - genau wie es die Verfassung vorsieht. Die Freiheit der Presse wird nicht angetastet, das Recht der freien Rede wird verteidigt, viele Regierungsbeschlüsse werden von unabhängigen Gerichten blockiert. Nach außen hin ist der US-Präsident aber leider uneingeschränkter Monarch. Er kann aus Verträgen austreten, wann immer er Lust hat. Er könnte jederzeit einen präventiven Atomschlag gegen Nordkorea befehlen. Da gibt es niemanden, der legal einschreiten könnte. Nach Trumps Wahl vergangenen Dezember dachte ich, man müsse das Land womöglich verlassen, weil die amerikanische Demokratie gefährdet sein könnte. Doch sie hält einstweilen gut stand. Gefährdet ist die Stabilität der Welt draußen.
profil: Motörhead-Mastermind Lemmy Kilmister nannte einen früheren US-Präsidenten öffentlich "Arschloch". Darf man Trump auch so nennen? Kehlmann: Natürlich, man darf und soll, aber wenn man Trump "Arschloch" nennt, muss man den Ausdruck eigentlich bei einer ganzen Menge Leute, die man bislang so bezeichnet hat, zurücknehmen. Trump hebt den Begriff auf ein neues Niveau. Oder zieht ihn in eine ganz neue Tiefe.
Manchmal hat die Mehrheit der Vernünftigen auch einfach recht.
profil: Die Guten dieser Welt waren sich noch nie derart einig, wer der Beelzebub ist. Kommt Ihnen das nicht verdächtig vor? Kehlmann: So könnte man schon denken, aber ich glaube, das wäre falsch. Das Gute an Trump ist eben, dass durch ihn eine kaum je gekannte moralische Klarheit geschaffen wurde, bis hin zur Kindererziehung. Man kann sein Kind inzwischen ermahnen: Hör mal, so wie du dich jetzt gerade aufführst, so benimmt sich auch Trump! Schon ein Sechsjähriger versteht, was gemeint ist. Trump hat es fertiggebracht, dass der Rest der westlichen Welt zusammenrückt und sich daran erinnert, wie wichtig Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit ist, oder auch einfach nur Höflichkeit.
profil: Die Geschlossenheit der Anti-Trump-Phalanx bringt Sie überhaupt nicht ins Grübeln? Kehlmann: Manchmal hat die Mehrheit der Vernünftigen auch einfach recht. Trump schafft durch seine außerordentliche Beschränktheit, Verlogenheit und Bösartigkeit eine moralische Klarheit, für die man ihm fast dankbar sein könnte.
profil: Die Mächtigen würden offenbar auch einen Narren wie in Ihrem Roman "Tyll" brauchen, der als Einziger die Wahrheit sagt? Kehlmann: Die Narrenfreiheit in vormoderner Gesellschaft, in welcher der Roman spielt, hängt aber auch daran, dass es sonst keine freie Meinungsäußerung gab. In der Türkei wäre es mir bei Strafdrohung verboten, den Präsidenten zu kritisieren. In Amerika ist es weiterhin möglich, ich kann hier sitzen und die schlimmsten Dinge über ihn sagen. Deshalb bleiben die USA ein freies Land, und deshalb brauchen wir auch keine Hofnarren mehr. Weil wir eben frei reden dürfen.
profil: In "Tyll" fürchten die Menschen des Mittelalters, die Welt könnte in 100 Jahren untergehen. Wie ist es um die heutige bestellt? Kehlmann: Man verdrängte in den vergangenen Jahren bequemerweise, dass ein gigantisches Atomarsenal nach wie vor existiert. Im Jahr 2012 fragte der US-Journalist Ron Rosenbaum in einem sehr lesenswerten Buch, was denn nun eigentlich mit all den Sprengkörpern los sei. Man denke, so Rosenbaum, das habe sich erledigt -die Waffen seien aber noch immer gefährlich. Damals war es überraschend, das zu lesen. Jetzt wissen wir das plötzlich alle wieder.
profil: Während wir sprechen, untersucht ein Großaufgebot der Polizei nicht weit von hier am Times Square einen versuchten Terroranschlag, bei dem es Verletzte gab. Ist die Welt viel verrückter als, sagen wir, vor zehn Jahren? Kehlmann: Vor einem Jahrzehnt erlebten wir wohl einen kurzen Höhepunkt der Vernunft. Vor 35 Jahren war die Lage wiederum viel verrückter - vielleicht sogar verrückter als heute. Damals war der Kalte Krieg in seiner Endphase. Oder die frühen 1970er-Jahre waren nun wirklich zum Fürchten: Die USA hatten einen offen rassistischen Präsidenten, Menschen dunkler Hautfarbe wurden im Süden des Landes extrem unterdrückt. Man sollte sich also nicht sehr der Verzweiflung hingeben. Vieles ist wirklich besser geworden. Homosexuelle können heiraten, rassistische Äußerungen sind heute in den USA seltener als zum Beispiel noch im Österreich meiner Jugend - gar nicht zu reden von den unglaublichen Leistungen der Wissenschaft. Wir erleben einen Rückschlag des Pendels in Richtung Unvernunft, Religion, Terrorismus. Überstehen wir jedoch die Atomkriegsgefahr, die ich im Moment für groß halte, wird der Fortschritt langfristig nicht aufzuhalten sein.
Trump ist sicher instinktbegabt, auf eine ganz niedrige, brutale Art - so wie auch Hitler kein Genie war, aber gut funktionierende Instinkte hatte.
profil: Fasziniert der US-Präsident nicht wenigstens als dunkles Genie? Kehlmann: Er hat Charakterzüge, die, wertfrei gesehen, beeindruckend sind. Er bleibt aufrecht, was auch immer ihm zustößt, er schlägt alle Angriffe auf eine so vulgäre wie brutale Weise aus dem Weg, ohne sich je zu beugen. Im Englischen gibt es das schöne Wort "resilience". Trump ist absolut widerstandsfähig.
profil: Ist er auch ein großer politischer Taktiker? Kehlmann: Nein, aber er spürt, mit welchen Themen er Massen finden kann und was diese hören wollen. Er ist sicher instinktbegabt, auf eine ganz niedrige, brutale Art - so wie auch Hitler kein Genie war, aber gut funktionierende Instinkte hatte.
profil: Die "New York Times" berichtete jüngst, der Präsident finde neben seinen Amtsgeschäften jeden Tag Zeit für vier Stunden TV-Konsum. Kehlmann: Und zwölf Dosen Cola light. Es ist alles dokumentiert. Allein was er isst und trinkt, würde kaum einer bei guter Gesundheit durchstehen. Man muss es ihm schon lassen: Er ist unverwüstlich.
profil: Wird er als bedeutender Präsident in die Geschichtsbücher eingehen? Werden Flughäfen nach ihm benannt werden? Kehlmann: Vielleicht mitten im Nirgendwo ein kleiner, mieser Flughafen. Aber wenn wir Mike Pence, der vielleicht sein Nachfolger wird, den Rechtsideologen Stephen Bannon und Trumps unsäglichen Familienclan inklusive seiner Evita-Perón-artigen Tochter Ivanka einigermaßen überstehen, wird diese Zeit als eine Periode der Beschämung in die Geschichte eingehen. Man wird dann lange darüber nachdenken und viel schreiben müssen, wie das alles möglich war, wie die Partei Lincolns und der Sklavenbefreiung einen Donald Trump unterstützen konnte. Wer jetzt mit ihm mitläuft, weil er sich Vorteile erhofft, wird sich dafür bald sehr schämen.
profil: Was wird von seiner ersten Amtszeit bleiben? Kehlmann: Giftige Schlacke, von der sich die Gesellschaft erst wieder reinigen muss. Die schlimmsten Dinge finden derzeit im Verborgenen statt. Richterämter werden in einem schleichenden Prozess, der öffentlich kaum diskutiert wird, mit fundamentalistisch religiösen Kandidaten neu besetzt, liberale Staatsanwälte werden gegen republikanische ausgetauscht. Es findet eine schleichende Erosion statt.
profil: Bill Clinton überlebte politisch sein Impeachment-Verfahren. Werden dem amtierenden Präsidenten die Russland-Ermittlungen gefährlich? Kehlmann: Das wäre schön, aber unser bester Verbündeter, um Trump bald aus dem Weißen Haus zu bekommen, ist seine eigene Wut. Er hat zweifellos eine der unglaublichsten Leistungen vollbracht, die je einem pathologischen Narzissten gelungen sind: Obwohl er von keinem denkenden Menschen ernst genommen wurde, hat er sich zum mächtigsten Mann der Welt aufgeschwungen. Aber jetzt ist er dauernd außer sich vor Wut, weil er am Ende doch auch noch von aller Welt geliebt werden will. Das führt zu ständiger Adrenalinüberflutung. Ich schätze die Möglichkeit, dass er die vier Jahre aus rein gesundheitlichen Gründen nicht überstehen wird, für weit größer ein als ein Impeachment, das die Republikaner ja mittragen müssten.
profil: Wäre Mike Pence, der die Evolutionstheorie leugnet und die globale Erwärmung infrage stellt, die bessere Alternative? Kehlmann: Viele meinen, er sei genauso schlimm. Die Gefahr eines Atomkrieges unter Pence schätze ich allerdings geringer ein. Damit wäre immerhin schon etwas gewonnen.
profil: Sie leben seit drei Jahren in New York. Ist Ihnen Europa zu klein geworden? Kehlmann: Oh nein, ich fühle mich nirgendwo so sehr als Europäer wie hier. Früher stieg man in New York aus dem Flugzeug und fühlte sich umfassend freier. Dieses Gefühl habe ich inzwischen, wenn ich in Berlin lande.
profil: In "Tyll" leben die Menschen in ständiger Gefahr des Todes: Pest, Krieg, Krankheiten. Was kann der Mensch des 21. Jahrhunderts davon lernen? Kehlmann: Vor 400 Jahren hatten alle Menschen schon in jungen Jahren ununterbrochen Schmerzen: Knochenbrüche, die nicht gut verheilten, Zahnprobleme, die nicht verschwinden wollten, Entzündungen, die nicht abklangen. Alles in allem haben wir enormes Glück, in dieser Zeit zu leben und nicht in irgendeiner Periode der Vergangenheit, egal wie interessant die sonst auch gewesen sein mag. Einfach der Medizin wegen.
Das Dasein, das man selbst führt, empfindet man ja immer als banal. Aufregend ist immer das Dasein der anderen.
profil: Klären wir zum Schluss einige hartnäckige Klischees über Daniel Kehlmann. Wie kommt man in den Ruf, ein literarischer Musterschüler zu sein? Kehlmann: Ach, sagt man das in Österreich noch immer? Es stimmt natürlich, dass ich für meine Bücher zuweilen recherchiert habe. John le Carré macht das aber auch, niemand käme auf die Idee, ihn deshalb Musterschüler zu nennen. Im österreichischen Kulturleben gibt es noch immer einen seltsamen Antiintellektualismus. Vor einiger Zeit waren wir mit Zadie Smith im Central Park mit den Kindern auf dem Spielplatz. Irgendwann kamen wir auf George Eliots "Middlemarch" zu sprechen. Ich fragte Zadie, ob man das wirklich lesen müsse. Sie schaute mich nur an und sagte: "Daniel, Jesus!" Das ist eine Antwort, die man in Österreich nie von einem Schriftsteller bekommen würde, alle schämen sich immer des Gedankens, dass es Pflichtlektüre gibt, und wollen unbedingt als entspannte Typen gesehen werden, die kaum je ein Buch anrühren. Die Vorstellung, dass zum Beispiel "Middlemarch" zum Handwerk eines Schriftstellers gehören kann, ist unter amerikanischen Autoren Gemeingut. Ich habe das Buch übrigens noch immer nicht gelesen.
profil: Bob Dylan sagte, er habe mit 17 schon gewusst, dass er ein außergewöhnliches Leben führen werde. Sie galten auch lange Zeit als Junggenie. Kehlmann: Das Gefühl eines außergewöhnlichen Lebens hatte ich eigentlich nie. Mit 17 hoffte ich, Schriftsteller zu werden, aber ist das ein außergewöhnliches Leben? Das Dasein, das man selbst führt, empfindet man ja immer als banal. Aufregend ist immer das Dasein der anderen. Ein einziges Mal hatte ich wirklich die Empfindung des Außerordentlichen, als vergangenen Sommer eines meiner Stücke am Londoner West End aufgeführt wurde, mit Hollywoodstar F. Murray Abraham in der Hauptrolle. Da habe ich mich gefragt, ob ich träume.
profil: Neuerdings soll der Geistesmensch Daniel Kehlmann in New York auch boxen. Kehlmann: Fitness-Boxen, der jüngste Gesundheitstrend. Nach Aerobic und Yoga ist jetzt Boxen an der Reihe. Man erhält Anweisungen von einem Trainer und schlägt gegen Sandsack und Pratzen. Ab einem gewissen Alter muss man irgendwas für seine Gesundheit tun. Aber es ist ganz unspektakulär.
profil: Könnten Sie es mit Nabokov, einem Ihrer Lieblingsautoren und praktizierendem Faustkämpfer, im Ring schon aufnehmen? Kehlmann: Weder mit Hemingway, noch Nabokov, noch irgendwem. Ich würde keine 20 Sekunden überstehen. Ich habe sehr langsame Reflexe. Ich kann keinen schnellen Schlag abblocken. Im Ring könnte ich gar nix.