Literatur

Daniel Kehlmanns famoser neuer Roman: "Lichtspiel"

Der Autor Daniel Kehlmann dringt in wenig ausgeleuchtete Nischen der Filmgeschichte vor. In „Lichtspiel“ fantasiert er sich sarkastisch durch die unwegsame Karriere des altösterreichischen Regisseurs G. W. Pabst.

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Heinz Conrads hat seinen unrühmlichen Auftritt gleich im ersten Kapitel dieses Romans, in einem Prolog, der in burlesker Manier von der Reise eines dementen Zeitzeugen aus dem Seniorenheim ins Fernsehstudio berichtet. Der Mann soll sich an die gute alte Zeit an der Seite des Regisseurs G. W. Pabst erinnern, doch der Geladene weiß nicht recht, wie ihm geschieht. Seine Antworten konterkarieren die inszenierte Gemütlichkeit, sprengen den süßlichen Rahmen der Live-Sendung, sie wird schließlich abgebrochen, der Moderator tobt, beschimpft Gast und Mitarbeiter unflätig.

So setzt Autor Daniel Kehlmann den Ton seines jüngsten Romans, den er „Lichtspiel“ genannt hat: Die fiktive Zuspitzung realer Ereignisse und Figuren erlaubt die tragikomische Entstellung der Welt zur Kenntlichkeit. „Lichtspiel“ kreist um die Lebensirrwege des in Böhmen geborenen, in Wien sozialisierten Filmemachers Georg Wilhelm Pabst (1885–1967), einer ambivalenten Figur, die sich dem Zugriff der Nationalsozialisten nicht entziehen konnte. Im deutschen Kino der 1920er-Jahre feiert Pabst Erfolge, an die er, erst nach Frankreich, dann in die USA emigriert, nicht anschließen kann. In Hollywood verzweifelt er am Studiosystem, an der falschen Freundlichkeit und der Allmacht der Produzenten, aber auch an seinem unsäglichen Englisch. Pabst wird, im Versuch, einen weiteren starken Publikumsfilm zu drehen, zum Bittsteller bei den beiden Diven, deren Popularität er einst vorangetrieben hat: Aber sowohl die Schwedin Greta Garbo, die 1925 in Pabsts „Die freudlose Gasse“ brillierte, als auch die Amerikanerin Louise Brooks aus „Die Büchse der Pandora“ (1929) weisen ihn ab.

Die dreiteilige Struktur, die Kehlmann seiner durch die Zeiten springenden Erzählung gibt, ist signifikant: Er teilt sie in die Blöcke „Draußen“, „Drinnen“ und „Danach“. Der Hauptteil des Romans spielt „drinnen“, in den filmkulturellen Innenwelten des Nazi-Regimes, das sich für das propagandistische Potenzial eines Massen mobilisierenden Kinos bekanntlich besonders interessiert hat. So treffen sie in „Lichtspiel“ alle aufeinander: die Opportunisten und die NS-Skeptiker, die Machtgierigen und die Fluchtwilligen. Sie alle ringen um etwas, jede und jeder um etwas anderes: um das Privileg eines „unpolitischen“ Kinos, um ungeahnte Karrierechancen durch Anpassung, manche auch schlicht ums Überleben.

An dem charakterlich schwächelnden G. W. Pabst, den es mit seiner Familie eher zufällig in die Abgründe des Nazi-Filmgeschäfts verschlägt, macht Kehlmann die moralischen Debatten fest, die er mit Vehemenz und Sarkasmus vorantreibt: was es konkret bedeuten konnte, nein zu sagen zu den Wünschen der Machthaber; welche Schleichwege der Verweigerung sich auftaten; wie sich Hoffnung und Selbstachtung in Spurenelementen erhalten ließen in Zeiten der Tyrannei.

Dabei entwirft Kehlmann ein breites Panorama der angeschlagenen Kulturszene jener Jahre; er lässt den Schriftsteller Carl Zuckmayer, die Schauspielerin Henny Porten, den Regisseur Helmut Käutner, die NS-Propagandistin Leni Riefenstahl und den Filmstar Heinz Rühmann auftreten. Maliziös skizziert er Widerlinge, die als Randfiguren auftreten – Austro-Provinznazis („sein vor Gemeinheit zerfurchtes Eichhorngesicht“) und NS-Ministeriumsschergen, die ihre Minderwertigkeits- komplexe mit Machtdemonstrationen und Überlegenheitstheater kompensieren.

Die überaus bildhafte und dialogpointierte Form, die Kehlmann findet, bildet ein überraschendes Gegengewicht zur Schwere seines zentralen Sujets: des Vegetierens in einem mörderischen Klima des Misstrauens, der Erpressung, der Denunziation und der Verschleppung.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.