Daniela Dröschers Roman "Lügen über meine Mutter": Masse und Macht
Klassenzugehörigkeit formt das Leben. Sie verhindert bei den einen ein Selbstbewusstsein, das den anderen in die Wiege gelegt wurde. Sie schafft Scham, wenn man die weniger gebildeten Eltern hinter sich lässt. Im Werk der französischen Autorin Annie Ernaux wird präzise analysiert, was es für Frauen bedeutet, ihrer Klasse zu entwachsen. Es war längst fällig, dass solche Geschichten mit soziologischem Blick auch im deutschsprachigen Raum erzählt werden. Zu den herausragenden Büchern dieser Saison zählt Daniela Dröschers autobiografischer Roman "Lügen über meine Mutter", der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Die 1977 geborene Autorin blickt darin auf ihre Kindheit in den 1980er-Jahren im Hunsrück zurück: Ständig bekommt ihre Mutter von ihrem Mann eingeimpft, sie sei zu dick. Und damit schuld daran, dass er im Job nicht befördert wird. Im Badezimmer steht die "Waage des Grauens"; Fatshaming war damals noch kein gängiger Begriff.
Dröschers Mutter ist eine starke, selbstbewusste, eigentlich kämpferische Frau, die sich von einem ängstlichen, neurotischen Mann unterbuttern lässt, der ihr Erbe verprasst und trotzdem das Narrativ aufrechterhält, sie sei eine Verschwenderin. Der kindlichen Erzählperspektive stehen essayistische Passagen gegenüber, in denen Dröscher reflektiert, wie das Leben ihrer Mutter aussehen hätte können, wenn die patriarchalen Lügen ihres Vaters weniger gesellschaftlichen Nährstoff bekommen hätten. Ihr Vater sei ein "Schauspieler seiner selbst", gefangen im eigenen Aufstiegstraum. Typisch für ein Jahrzehnt, in dem das Yuppie-Bewusstsein suggerierte: Du kannst alles sein. Aber zu welchem Preis?
Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. KiWi. 448 S.,EUR 24,70