Das Filmfest Cannes endet im Gerichtssaal: Goldene Palme an Justine Triet
Am Ende hat sich die Jury unter Regisseur Ruben Östlund doch nicht getraut, dem Erfinderischen den Vorzug über das bloß „gut Gemachte“ zu geben. Am Samstagabend, kurz nach halb zehn gab man die diesjährige Gewinnerin des Filmfestivals in Cannes bekannt: Es sollte die Französin Justine Triet, 44, sein, die mit ihrem Ehe- und Gerichtssaaldrama „Anatomy of a Fall / Anatomie d’un chute“ als dritte Frau in der 76-jährigen Geschichte der Filmfestspiele (nach Jane Campion 1993 sowie Julia Ducournau 2021) den Hauptpreis davontrug.
Und natürlich muss man Triets filigrane Spurensuche nach den Ursachen des Todessturzes eines mit seiner Beziehung Hadernden (Unfall? Suizid? Mord?), zumal sie unter Beteiligung der außerordentlichen deutschen Schauspielerin Sandra Hüller entstanden ist, einen sehr guten Film nennen – gemessen an den Durchschnittslevels des großen Rests des Arthouse-Gegenwartskinos. Nur in der Binnenwelt des unüblich substanziellen Wettbewerbsprogramms 2023 eben hätte es verwegenere Siegerinnen und Sieger geben können. Alen voran Jonathan Glazers Versuch über den Holocaust, das beunruhigende, bewusst brüchige Rudolf-Höß-Porträt „The Zone of Interest“, das immerhin den Großen Preis des Festivals erhielt
Das well made cinema triumphierte in anderen Kategorien: Ein weiterer Franzose, der im Vietnam geborene Filmemacher Trần Anh Hùng, wurde als bester Regisseur für „La passion de Dodin Bouffant“ gewürdigt (englischer Titel: „The Pot-au-feu“), eine historische Arbeit, die ausschließlich von der Kochkunst des späten 19. Jahrhunderts handelt. Die Speisen und ihre Zubereitung sind außerordentlich sinnlich fotografiert und präzise inszeniert, Juliette Binoche und Benoît Magimel tun als zentrales Liebespaar ihr Bestes. Die Ästhetik dieses Films liegt dennoch nah am Kunstgewerbe.
Der Preis für das beste Drehbuch ging an Yuji Sakamoto für seine zwar komplexe, aber auch synthetische Arbeit an dem japanischen Film „Monster“ (Regie: Hirokazu Kore-eda), in dem die traurigen Ereignisse einer an den Beschränkungen der Gesellschaft scheiternde Liebe zweier Buben aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt wird; und noch ein Japaner, der Schauspieler Koji Yakusho, wurde für seine souveräne Darstellung eines Toilettenreinigers in Wim Wenders’ in Tokio gedrehtem Werk „Perfect Days“ als bester männlicher Darsteller gewürdigt. Die stärkste Schauspielerin erkannte man in der Türkin Merve Dizdar, deren subtile Performance Nuri Bilge Ceylans „About Dry Grasses“ zugute kommt. Der Preis der Jury schließlich ging – verdient – an den finnischen Altmeister Aki Kaurismäki und seine melancholisch-pointierte Arbeiterromanze „Fallen Leaves“.
Fehlstart und Aufstieg
Einen veritablen Fehlstart hatte man in Cannes, wie berichtet, mit dem Historiendrama „Jeanne du Barry“ hingelegt: schwerfällige Inszenierung, kraftloses Spiel, antifeministische Stoßrichtung. Danach konnte es nur noch besser werden; und es wurde – sogar viel besser als erwartet, wenn auch nicht gleich. Die ersten drei Spieltage brachten allerlei Durchwachsenes, dann plötzlich waren sie da, die herausfordernden, die verstörenden, die nachwirkenden Filme. Erst kam Nuri Bilge Ceylans vieldeutige türkische Wintererzählung „About Dry Grasses“, dann setzte es (außerhalb des Wettbewerbs) formal Überraschendes wie das Western- und Polizistinnen-Märchen „Eureka“ des Argentiniers Lisandro Alonso und den autobiografischen Kino- und Architektur-Essay „Pictures of Ghosts“ des Brasilianers Kleber Mendonça Filho, anschließend die Preziosen „The Zone of Interest“ (Jonathan Glazer) und „May December“ (Todd Haynes), flankiert von einem trag- und satisfaktionsfähigen Drama aus dem Senegal: Ramata-Toulaye Sys Dorftrauerspiel „Banel & Adama“.
Zur Halbzeit wurde es ungewohnt heiter, bei Aki Kaurismäki und Wes Anderson (sowie, in den Nebenreihen bei Michel Gondry und Bertrand Mandico) wurde auf Höchstniveau unterhalten. Gegen Ende hin kredenzte man noch betont dekadentes Genusskino mit „The Pot-au-feu“ sowie zwei gewichtigere Filme zu den Abgründen des Begehrens (Catherine Breillats „Letzter Sommer“) und dem Treiben italienischer Grabräuber („La chimera“, in Szene gesetzt von Alternativfolklore-Star Alice Rohrwacher), ehe die Festspiele mit zwei Programmkino-Veteranen, dem Briten Ken Loach und dem Deutschen Wim Wenders, ihren Lauf beendeten.
Salon-Sozialismus
Der ausgeprägte Salon-Sozialismus eines Elite-Festivals wie Cannes erstaunte allerdings: In proletarische Milieus drangen viele Wettbewerbsfilme vor; die chinesische Dokumentarfilmgröße Wang Bing zeichnet in „Youth“ die Ausbeutung junger Arbeitsmigranten in Billigtextilfabriken nach; die Tunesierin Kaouther Ben Hania porträtiert in „Four Daughters“ eine trauernde Mutter, die zwei Töchter an den Islamischen Staat verloren hat. Ken Loach und sein Autor Paul Laverty feiern in „The Old Oak“ den notwendigen Kampf gegen die hochkochende Fremdenfeindlichkeit, als syrische Geflüchtete in einer englischen Kleinstadt untergebracht werden. Kaurismäki legte eine weitere seiner stoisch arrangierten Romanzen vor, in denen trotz Alkoholismus, Resignation und Arbeitslosigkeit die Liebe gedeiht. Den sanften Rhythmen des Alltags, dem streng ritualisierten Leben eines alternden Toilettenreinigers in Tokio, berührend verkörpert von Filmstar Koji Yakusho („Tampopo“, „Unagi“, „13 Assassins“) gibt sich Wenders in „Perfect Days“ hin. Und Rohrwacher interessiert sich in „La chimera“ leidenschaftlich für das kommunale Leben der Entrechteten. Ausnahmen blieben die (durchaus erfrischend schamlosen) Erzählungen vom Hedonismus der Reichen und Schönen in „Letzter Sommer“ und „Pot-au-feu“.
Verfremdungseffekte
Der Bruch mit der filmischen Illusion war in Cannes 2023 omnipräsent, die Künstlichkeit der Inszenierungen wurde gern hervorgehoben: Martin Scorsese erzählt seine Vision des Genozids an den durch Ölquellen reich gewordenen native Americans in „Killers of the Flower Moon“ mit einer nostalgischen True-Crime-Radioshow zu Ende, in der jeder Ton von Geräuschemachern liebevoll erzeugt und die US-Historie ins Korsett des Entertainment gepresst wird. In Ceylans Egomanen-Drama öffnet sich kurz vor Schluss die Tür eines Wohnraums zur Filmstudiohalle hin, in die man diesen gebaut hat. „May December“ konfrontiert zwei grandiose Schauspielerinnen (Natalie Portman und Julianne Moore) in einem Melodram, das sich explizit mit sozialem und filmischem Schauspiel befasst. Kaurismäki pflastert „Fallen Leaves“ mit zahllosen Filmzitaten, während Anderson in „Asteroid City“ seine in der Wüste errichtete Theaterkulissenwelt nicht nur nicht zu verschleiern sucht, sondern diese (zu Recht) stolz ausstellt.
Finstere Themen
Düster blieb, bei aller Heiterkeit mancher Regiezugriffe, die Themenwahl dieses Jahrgangs: Es ging in der Regel um nichts weniger als Holocaust, Rassismus, Mobbing, Arbeitskampf, Machtmissbrauch, Jugendradikalisierung, um Psychosen, Tyrannei, Armut, Xenophobie und, na klar, die kommende Apokalypse. Gelegentlich nur präsentierte man Filme (etwa jene von Wenders, Anderson, Rohrwacher und Nanni Moretti), die sich die Vitalität eines grundlegenden Optimismus zutrauten. Wir werden ihn brauchen können.