Die Handy-Aufnahmen der kaum verhüllt über den Campus ihrer Hochschule schlendernden Ahoo Daryaei, aufgezeichnet aus einiger Distanz, gingen um die Welt, weil eine sich nicht bedeckt haltende Frau in der Islamischen Republik Iran als absolut ordnungswidrig, ja kriminell gilt. Die Ansichten der gegen Kleidungs- und Verhaltensmaßregeln so sinnträchtig Verstoßenden wurden via Social Media schnell ikonisch; in mehreren westlichen Großstädten prangten bereits wenige Tage später lebensgroße Street-Art-Porträts der jungen Widerstandskämpferin an den Mauern, in Demonstrationen wurde ihr einsamer Aufstand reinszeniert und gewürdigt.
Denn Ahoo Daryaei brachte es zuwege, den friedlichen Protest gegen die religiös-patriarchalen Körperverschleierungsvorschriften im Iran in ein unmittelbar verständliches, kraftvolles Bild zu verwandeln. Sie hat dabei nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Leben riskiert – Todesurteile infolge regimekritischer Aussagen oder oppositioneller Kunstwerke sind im Iran nicht selten. Mit ungeheurer Entschlossenheit brachte Daryaei den Irrsinn eines Systems auf den Punkt, das die simple Sichtbarmachung eines weiblichen Körpers als etwas schlichtweg Unaussprechliches (und Unzeigbares) gebrandmarkt hat.
Die Details zu den Hintergründen und Konsequenzen der Aktion liegen bislang nur in Fragmenten vor. Ahoo Daryaei, 30, Doktorandin der französischen Literatur, zweifache Mutter, sei nach dem Eklat in eine psychiatrische Institution eingewiesen worden, hieß es. Angeblich habe sie an „massiven Stresssymptomen“ gelitten, wie Hochschulbeamte eilfertig behaupteten. Der Stress, der ihre Protestmaßnahme wohl ausgelöst hat, wurde jedoch unmittelbar davor von Mitgliedern der paramilitärischen und regierungstreuen Basidsch-Miliz verursacht, die sich Daryaei gewaltsam genähert und Teile ihrer Kleidung zerrissen haben sollen, weil die Studentin ihr Kopftuch nicht oder (anderen Berichten zufolge) nachlässig getragen habe. Der Selbstsicherheit und Souveränität, die sie in den Amateuraufnahmen ausstrahlt, liegen der Zorn und die Scham über eine erst Minuten alte traumatische Erfahrung zugrunde.
Moralpolizei als Terrorinstrument
Nach ihrem Abtransport verschwand Daryaei spurlos, über Tage. Sie sei in eine ungenannte psychiatrische Klinik eingeliefert worden, wurde verlautbart. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International qualifizierte diese Nachricht als „sehr alarmierend“, denn es sei hinlänglich dokumentiert, dass die iranischen Behörden jede Verweigerung der Zwangsverschleierung mit „psychischen Störungen“ gleichsetzen, die „behandelt“ werden müssten. Die Allzweckdiagnose „mentale Instabilität“ ist der im Mullah-Regime beliebteste Vorwand, um politisch missliebige Bürgerinnen zum Schweigen zu bringen. Der von der iranischen Regierung über ein eigenes „Hidschāb- und Keuschheitsgesetz“ erhobene absolute Anspruch der Kontrolle von Frauenkörpern und Frauenleben wurde vor wenigen Wochen erst dramatisch verschärft, unter anderem mit der Ankündigung von Prügel- und Haftstrafen im Ausmaß von bis zu 15 Jahren. Eine gewaltbereite Moralpolizei ist im Iran omnipräsent, und Menschenrechtsverletzungen gehören zum Standardprozedere der Regierung.
Man weiß bis heute nicht, durch welche Höllen Ahoo Daryaei gehen musste, man hört von Fluchtversuchen aus der Quarantäne, Gerüchten von Isolation, Zwangsmedikation und Folter. Der weltweite öffentliche Aufschrei gegen ihre Inhaftierung erwies sich letztlich als hilfreich: Man wolle die „psychisch erkrankte“ Frau juristisch nicht behelligen, gab man regierungsseitig bekannt. In der Zwischenzeit sei sie frei und bei ihrer Familie; zu überprüfen sind diese Angaben nicht, Daryaei bleibt abgetaucht, sehr wahrscheinlich – unter Androhung drakonischer Strafen – zu langfristigem Schweigen gezwungen.
Auf die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“, die in den iranischen Straßen Mitte September 2022 aufflammte – nach dem in Polizeigewahrsam eingetretenen Tod der wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Hidschāb-Gebot verprügelten und ermordeten Kurdin Mahsa Amini –, reagierte das Mullah-Regime skrupellos, tötete mindestens 550 Menschen und verhaftete Tausende der mutigen Protestierenden, von denen mehr als 140 hingerichtet wurden. Doch je heftiger die Gewalt der Tyrannen, desto entschlossener die Gegenwehr: Der Kampfgeist iranischer Frauen ist nicht zu brechen. Ahoo Daryaei beweist es.
Der Versuch der Behörden, die Hilferufe dieser jungen, sich an der Azad-Universität öffentlich exponierenden Frau zu unterdrücken, ist misslungen. Das Bild, das sie anzufertigen verstand, wog und bewegte mehr als alle Kalmierungsbemühungen. „Azad“ steht im Persischen für „frei“. Seit Daryaei ihre stille Revolte, diesen mutigen und – vermutlich auch für sie selbst – unabsehbar bildmächtigen Akt der Résistance gesetzt hat, klingt die Freiheit, die sich ihre Hochschule auf die Fahnen geschrieben hat, nur noch höhnisch.