Jahresrückblick

Das war 2024: Der Widerstand einer zornigen jungen Iranerin

Die prägenden Stunden des Jahres. Samstag, 2. November, 11 Uhr: Die Studentin Ahoo Daryaei protestiert in Teheran unverhüllt gegen die iranischen Sittenwächter.

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Die junge Frau schreitet, als wäre sie unsichtbar, über das dicht belebte Gelände der Islamischen Azad-Universität für Wissenschaft und Forschung in der iranischen Hauptstadt, äußerlich ganz ruhig. Kaum eine der verschleierten Passantinnen blickt sie an, und auch die ihren Weg kreuzenden Männer sehen, wenn überhaupt, nur verstohlen hin. Denn die Frau, die vor Minuten erst Opfer eines brutalen Übergriffs durch militante Kleidungswächter geworden ist, hat sich bis auf Unterwäsche und Socken entkleidet, ihr langes Haar trägt sie offen, unter keinem Hidschāb mehr verborgen. Erst sitzt sie noch auf einem Mauervorsprung, dann spaziert sie langsam, mit verschränkten Armen, durch die Menschenmenge, dabei scheint sie etwas zu deklamieren oder zu singen – um sozialen Forderungen Ausdruck zu verleihen? Vielleicht auch nur, um sich zu beruhigen. Als sie sich an einer Reihe geparkter Autos entlang weiterbewegt, wird sie von Security-Personal aufgehalten, in einen Wagen gezwungen und aus dem Verkehr gezogen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.