„Es gibt keine Figuren auf dieser Platte, es gibt nur mich. Es ist nur der Sound in meinem Kopf“, ließ die 41-Jährige vorab wissen. Dafür habe sie aber erst einmal tief in sich gehen müssen, um ihr eigenes Klangvokabular zu finden. Als „Post Industrial Dance Music“ bezeichnet Clark das Ergebnis – die erste Hälfte von „All Born Screaming“ hört sich zweifellos danach an. Weil wir ohnehin alle schreiend und verängstigt in dieser Welt ankommen, dürfen auch Songs wie „Broken Man“ oder „Big Time Nothing“ ein im sonst so klaren St. Vincent’schen Konzeptklangkosmos ungekanntes Faible für Krach, Chaos und Intuition an den Tag legen – viele Stücke entstanden auf Basis von Spielereien mit analogen Modular-Synthesizern.
Lieben oder in Stücke reißen?
Erfrischend abgründig und angriffslustig knarzen hier also Industrial-Bässe, die Noise-Gitarren kreischen, und Ex-Nirvana-Trommler Dave Grohl gibt zeitweilig den Drum-Derwisch. Textlich bedient sich Clark verstörend physischer Bilder: „Ich sehe dich an, und alles, was ich sehe, ist Fleisch“, lässt sie etwa ihr Gegenüber in „Flea“ wissen, und in „Reckless“ wird dieses vor beunruhigende Alternativen gestellt: „Ich werde dich in Stücke reißen, oder ich werde mich verlieben.“ Die Künstlerin steht nicht nur auf dem Plattencover merklich in Flammen.
Doch kaum wähnt man sich zu tief in diesem Sog menschlicher Untiefen versunken, kommt es zu einer bemerkenswerten Zäsur: Mit dem verkappten Bond-Thema „Violent Times“ beginnt St. Vincent auf halber Strecke einen Ausweg aus Angst und Agonie anzustreben. Für sie sei die erste Hälfte des Albums die Grundlage – „sei es der Tod, die Zerstörung oder der eigene innere Monolog des brutalen Selbsthasses, bei dem man ins Leere starrt und sagt: ,Das Leben ist unmöglich‘“, erklärte sie unlängst im Interview mit dem „Guardian“. In der zweiten Hälfte heiße es: „Wir müssen es verdammt noch mal aber auch leben.“
Und siehe da, auf verschlungenen Wegen sind sie dann auch wieder da, die Momente der Verquickung von Pop-Appeal und avantgardistischen Hakenschlägen, die ihre stärksten Werke, etwa „Strange Mercy“ (2011) oder „Masseduction“ (2017), auszeichnen. Der Kreis geschlossen, die Wiedergeburt vollzogen. Spätestens mit dem kathartischen Titel-Track am Ende ist Annie Clark, befreit von allen Masken, bei sich selbst angekommen – und hat dem Weltschmerz eine ganz eigene, betörende Form der Zuversicht und der Resilienz abgerungen.