John Irving: „Ich mache Witze über Schreibblockaden, denn ich habe selbst keine Ahnung, was das ist“
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"Der letzte Sessellift": Mit US-Starautor John Irving auf Vorarlbergs Skipisten

In seinem neuen Roman erzählt John Irving vom queeren Leben – und entdeckt seine Liebe zum Wintersport.

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Als Vorarlberger in Wien galt man damals als Mischung aus Almöhi und Bergkraxler. Damals, das war in der Uraltzeit, also in den frühen 1990er-Jahren, dem Tech-Mesozoikum ohne Handy, E-Mail, Internet. Die letzte Brücke zwischen dem Heimatdorf am Rhein und der Wiener Subsubstandard-WG war die Telefonzelle mit Münzeinwurf, bald auch – galoppierender Fortschritt! – mit Magnetstreifen-Wertkarte. Die Menschen in Wien wiederum waren der unverrückbaren Überzeugung, dass Vorarlberger grundsätzlich mit Skischuhen an den Füßen auf die Welt kämen, der erste Weg ins Leben mit geschulterten Skiern und Stöcken direttissima auf die höchsten Berge mit anschließender Talschussfahrt führe. High Life zwischen Après-Ski, Sonnencreme und Tiefschneewedeln. Der ewige Sommer im Hochwinter. Skifahren als Spirit des Lebens.

Der zart vorgebrachte Zwischenruf, man stamme aus der westlichen Tiefebene, mit Bergen allenfalls im fernen Panoramablick, wurde niedergebügelt, der Einwand, als Abkömmling des vorgeblichen Pistenvolks mit Skifahren und dem restlichen Drumherum nichts zu tun haben zu wollen, mit wienerischer Wegwerfgeste abgetan. Die Skischuhe, die sich wie mit Zement aufgegossene Betonklötze anfühlten; die Extremitäten, die sich vor lauter Frost und Kälte am liebsten einstülpen wollten; das Getümmel auf der Piste, bei dem es im Zweifelsfall, wie so oft, nur ein Gesetz gab, nämlich das des Stärkeren – all diese Dinge eben, weswegen der Jugendliche einen weiten Bogen um das Skifahren machte, wurden nicht ernst genommen.

Insofern ist Adam eine Art Seelenverwandter. Der Icherzähler in John Irvings neuem Roman „Der letzte Sessellift“ weigert sich beharrlich, seiner skiverrückten Mutter Rachel, die das Vorarlberger Bergdorf Lech für einen der bezauberndsten Wintersportorte überhaupt hält, auf die Schneepiste zu folgen. „Der letzte Sessellift“ hat 1080 Seiten, womit der 1942 im US-Bundesstaat New Hampshire geborene Bestsellerautor eine nur leicht überdurchschnittliche Prosa-Wegstrecke zurückgelegt hat – siehe „Garp und wie er die Welt sah“ (848 Seiten), „Owen Meany“ (864 Seiten), „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ (848 Seiten).

Irving gehört zu den bekanntesten Schriftstellern der Welt. Vier seiner bislang 14 Romane wurden verfilmt, für seine eigene Drehbuchadaption von „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ wurde er 2000 mit dem Oscar ausgezeichnet. Sechs Jahre lang hat Irving an seinem Alterswerk „Der letzte Sessellift“ geschrieben, in dem sich Adam erstmals auf Seite 734 gemeinsam mit seiner Mutter auf beschneite Berghänge wagt. Doch dazu später.

Chaos und Konfusion auf der Tagesordnung

Zuerst gilt es, sich lesend Stunde um Stunde diesem Buch zu widmen, das, wie bei Irving üblich, aus allen Nähten platzt, alles durcheinander und filterlos, was zugleich Gütesiegel und Problem ist. Irving bürgt für handlungsgetriebene, figurensatte, mindestens dreimal ironisch gewendete Erzählungen mit Premiumblick auf die Verrücktheiten und Absurditäten der Conditio humana. Der Autor, der durch seine jahrzehntelange Passion fürs Ringen optisch als Türsteher-Double durchgehen könnte, blickt in vielen seiner Romane mit Nerd-Brille auf seine bevorzugte Kampfsportart, durchmisst mit steter Leidenschaft seine Lieblingsschauplätze (New Hampshire, Maine, Vermont, Wien, neuerdings eben auch Vorarlberg!) und bevölkert seine episch dosierten Pageturner mit wahrhaft beeindruckenden Figuren. Irvings Bücher sind Reiseführer für Ausflüge in das Makabre und Groteske des Menschseins in dysfunktionalen Familienverhältnissen, in die Gespensterabgründe der sogenannten Normalität. Spröde Sprache trifft auf zügelloses Erzählen, das weder nervtötende Wiederholungen noch übertriebenes Pathos scheut, bei dem jeder Versuch einer Inhaltsangabe zum Scheitern verurteilt ist: So ließe sich die Irving-Methode umschreiben.

Schönstes Sammelsurium nun auch in „Der letzte Sessellift“: Rachel tritt mit 18 Jahren in Aspen, Colorado, 1941 bei den US-Skimeisterschaften an. Eine Medaille gewinnt sie nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimatstadt Exeter, New Hampshire, zurückkehrt. Als Sohn Adam 14 Jahre alt ist, verkuppelt er seine Mutter mit dem nur 1,45 Meter großen Englischlehrer Elliot, worauf Rachel die Hochzeitsnacht mit ihrer Lebensgefährtin Molly verbringt. Adam wird Schriftsteller, miserabler Drehbuchschreiber und Skipisten-Verweigerer (jedenfalls bis zu Seite 734), ein sympathischer Simpel inmitten eines lustvoll queeren Familienverbands, der sich zudem von Gespenstern umgeben wähnt. „Mein Leben ist ein Film, aber nicht aus den üblichen selbstgefälligen oder selbstmitleidigen Gründen“, notiert Adam. Sein Dasein sei vielmehr „ein nicht gedrehter Film“, weil man einen solchen eben nicht so schnell vergesse. Irving hat sich beim Schreiben offenbar eng an Adams Leitgedanken entlanggehangelt: „Der letzte Sessellift“ ist ein Buch der vielen losen Enden und Umwege geworden, in dem der Autor lustvoll über die Stränge schlägt, die Liebes- und Leidensgeschichten seines unsportlichen Helden fröhlich kapert. Funktionierte das Leben tatsächlich wie eines von Adams Drehbüchern, von denen in „Der letzte Sessellift“ zwei lange Kostproben zu lesen sind, wären Chaos und Konfusion definitiv an der Tagesordnung.

„Der letzte Sessellift“ verfolgt Adams lange Lebensreise. Sein Heranwachsen als Sohn von Rachel und Molly, seine Beziehung zu Stiefvater Elliot, der gern Frauenkleider trägt (und bald zur Frau wird), seine vertrackten Freundschaften zu einem Tableau überspannter Figuren jeder Schattierung. „Man lässt die Kindheit nie ganz hinter sich, erst wenn man unter den Zug gerät“, notiert Irving.

Der Autor schreibt so unverkrampft wie unpeinlich über Crossdressing, trans Menschen, Geschlechtsumwandlungen, die LGBTQ-Community. Ernste Angelegenheiten also, aufgelockert durch den Irving-Sound: „Jedes Lebewesen will ein normales Leben führen – selbst ein Tintenfisch“, sagt Adams Mutter Rachel. Im Fernsehen läuft „Arielle, die Meerjungfrau“. In Dauerschleife trällert Arielle: „Drum wünsch ich mir, ein Mensch zu sein.“

Alltagsleben und Gespenstertanz

Seite um Seite kurvt der Autor durch seinen selbst gesteckten Prosa-Parcours mit hoher Promi-Dichte: Die Namen der Austro-Skilegenden Toni Sailer, Franz Klammer und Annemarie Moser-Pröll fallen ebenso wie jene der Arlberger Skitechnikpioniere Hannes Schneider und Sepp Ruschp. Auch Arnold Schwarzenegger, James Dean, Dustin Hoffman, Marilyn Monroe, Martin Luther King und Kinogenie Jacques Tati dürfen nicht fehlen. „Tarzan“-Darsteller Lex Barker planscht als Gespenst im Whirlpool, wenn er nicht gerade seiner Kurzzeitehe mit Schauspielerin Lana Turner nachtrauert. Adams Großvater wiederum laboriert an Inkontinenz und stakst in Windeln durch die Szenerie. Gern knabbert er auf allen vieren die Achillesfersen der Umstehenden an und wird schließlich auf Rachels Hochzeit mit Elliot vom Blitz erschlagen. Bald geistert Opa als Spukgestalt durchs Haus, was wiederum Adams erotische Annäherungsversuche empfindlich durchkreuzt. „Ja, Jasmine schiss mir ins Bett. Nein, das war noch bei keiner anderen Freundin passiert“, berichtet Adam von einer Nacht voller Schreckensmomente und wenig Sex. Hey, wir befinden uns noch immer im Irving-Universum: Vernunft und Irrsinn, Alltagsleben und Gespenstertanz sind hier verlässlich eng verwoben.

Adams zweite Ehefrau, die Pantomime-Künstlerin Em, agiert unter mimischem und gestischem Totaleinsatz, ohne ein Wort zu reden. Erst auf den letzten Seiten des Romans verfällt sie in schnellen Redefluss, als ginge es um ihr Leben. Gestorben wird in diesem Roman übrigens oft und gern, nur Adam und Em kommen mit halbwegs heiler Haut davon. Adam ist gegen Ende des Romans 75 Jahre alt. „Für Em und mich gab es keine letzten Sessellifte, nur letzte Sätze“, protokolliert er. Viele dieser letzten Sätsiert: „Die katholische Kirche und die Republikaner, das sind die geborenen Arschlöcher, darauf kann man sich verlassen.“ Und Donald Trump, dem sich die US-Konservativen mit Haut und Haar ausgeliefert haben? „Trump ist nur ein weiterer Krimineller. Er wird im Gefängnis enden.“

„Der letzte Sessellift“ stürzt sich neben Abfahrts- auch in Bücherschluchten. Wer nach der Lektüre nicht umgehend zu Charles Dickens’ Erzählung „Große Erwartungen“ und Herman Melvilles Wal-Werk „Moby-Dick“ greift, dem ist nicht mehr zu helfen: Irving ist ein großer Lustmacher auf Literatur, der den beiden Klassikern ausufernde Elogen widmet, dem das Rätsel um den Bindestrich (und die Konsistenz von „Walkotze“) in „Moby-Dick“ viele Absätze wert ist. Für Adam, der einzige Normalo inmitten eines Ensembles grandioser Exzentriker, sind „Große Erwartungen“ und „Moby-Dick“ wertvolle „Notfallbücher“, um den Hindernisparcours seines eigenen Daseins einigermaßen zu meistern.

Das Skifahren reizt Adam bis zum Ende nicht. „Und wenn man nicht aufpasste, knallte einem dann der Sicherheitsbügel von oben an den Kopf“, klagt er. „Skifahrer reden immer von einer letzten Abfahrt, als würden sie womöglich dabei umkommen.“ Dementsprechend ist „Der letzte Sessellift“ auch für den seit den frühen 1990er-Jahren naturalisierten Wiener, der im vorgeblichen Skiparadies Vorarlberg aufwuchs, eine Art spätes Notfallbuch: Nie mehr Stemmbögen machen müssen, die zu wackeligen Schneepflügen werden. Nicht mehr auf dem Grellweiß der Abfahrtshänge abbremsen müssen, indem man einen Baum am Rande der Piste umarmt. Endlich.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.