Kino

Der Papst als Kindesentführer: Regisseur Marco Bellocchio über Kirche & Kriminalität

Die Verbrechen des Katholizismus und die Schatten des 7. Oktober: Ein Gespräch mit dem italienischen Filmemacher Marco Bellocchio.

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Bisweilen können auch Historienfilme gespenstische Aktualität entwickeln: Um Antisemitismus und die Entführung eines jüdischen Kindes kreist Marco Bellocchios jüngster Film, geschrieben gemeinsam mit der Filmemacherin Susanna Nicchiarelli und inszeniert bereits ein Jahr vor dem 7. Oktober 2023. „Rapito“, Bellocchios soeben in österreichischen Kino gestartetes Werk (detailfreudiger deutscher Verleihtitel: „Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes“), spielt Mitte des 19. Jahrhunderts in Bologna; die Terrorbrigade, die einen Siebenjährigen nach dessen heimlicher Taufe durch sein katholisches Kindermädchen verschleppt, sitzt im Vatikan. Nach realen Begebenheiten um den entführten Edgardo Mortara hat Bellocchio sein katholisches Crime-Drama entwickelt.

Niemand hat die politischen Implikationen der italienischen Psyche im Kino tiefenschärfer ausgeleuchtet als Marco Bellocchio – abgesehen nur von Pier Paolo Pasolini, der allerdings 1975 zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Seit 60 Jahren nimmt Bellocchio die Ideologiegeschichte und -gegenwart seiner Heimat ins Visier, berichtet von den Abgründen des institutionellen Katholizismus, von den Machtgeflechten der sizilianischen Cosa Nostra, vom Wirken des Faschismus und der Terrorgeschichte des Landes. Sein Spätwerk entwickelt sich prächtig, wie - um nur zwei Beispiele zu nennen – das opernhafte Mussolini-Melodram „Vincere“ (2009) sowie das Mafia-Epos „Il traditore“ (2019) beweisen. Die Entführung und Ermordung des ehemaligen italienischen Premiers Aldo Moro durch die kommunistische Terrorgruppe Rote Brigaden hat er gleich zweimal bearbeitet, als Kammerspiel „Buongiorno, notte“ (2003) und zuletzt 2022 in seiner Mini-Serie „Esterno notte“. 

Anfang November wird Marco Bellocchio, auch wenn er gute 15 Jahre jünger wirkt, seinen 85. Geburtstag feiern. Ein Zoom-Gespräch mit dem italienischen Regie-Meister, der sich gewohnt alert aus dem Hotel Weinmeister in Berlin-Mitte meldet.

Ist die unglaubliche Entführungsgeschichte, von der Ihr neuer Film erzählt, in Italien sehr bekannt?

Bellocchio

Nein. Ich hatte selbst nie von ihr gehört, stieß aber durch Zufall auf ein Buch über solche Entführungen, die einst sehr gängig waren. Im 17. Jahrhundert gab es einen Beschluss des Vatikans, dem zufolge heimlich getaufte Juden oder Muslime christlich bleiben mussten. Zu Edgardo Mortaras Lebzeiten kam es viel seltener als im 17. und 18. Jahrhundert zu solchen Verschleppungen. Es gab damals auch Widerstand seitens der jüdischen Gemeinschaften, auch von französischen, deutschen und englischen Regierungsmitgliedern, die Druck auf den Papst ausübten und dringend forderten, dieses Kind seiner Familie zurückzugeben. Mich faszinierte diese Story sehr.

Sie meinten im Vorfeld, dieser Film stelle keine Anklage der katholischen Kirche dar. Was denn sonst?

Bellocchio

In diesem Film erzähle ich von der Kirche unter Papst Pius IX, von einer Kirche des Jahres 1858. Heute ist sie eine ganz andere. Die alte Anschuldigung, dass Gott von den Juden umgebracht worden sei, hat sie längst revidiert, es gibt eine neue Offenheit. Und mein Film wird auch in Kirchenkreisen akzeptiert, ich habe mit Priestern und Kardinälen intensiv darüber diskutiert. Da gab es keinerlei Feindseligkeiten oder Verurteilungen. Natürlich: Innerhalb der Kirche existiert auch und immer noch ein Maß an Intoleranz; Religion und Kirche basieren auf rigiden Prinzipien. Insofern ist mein Film auch ein Manifest gegen alle Formen der Intoleranz.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.