Auslands-Oscar für "Der Rausch": Thomas Vinterberg im Interview
profil: Ihr Film "Der Rausch" handelt von vier Lehrern, die ihre Lebensfrustrationen mit einem wissenschaftlich organisierten Alkoholexperiment zu bekämpfen suchen. Sie stellen die Exzesse dieser Männer erstaunlich liebevoll dar. Moralisieren kam für Sie nicht infrage?
Vinterberg: Ich wollte nicht wie ein Politiker oder ein Priester über das Thema reden. Moralische und politische Verpflichtungen sind in der Kunst toxisch. Sie sind das Gegenteil kreativer Arbeit. Also verwandeln wir Moral in Neugier. Ich blicke neugierig auf den Abgrund des Alkoholexzesses. In dem englischen Begriff "spirit" stecken auch Geist, Seele und Temperament. In dem Wort "Inspiration" findet sich ebenfalls dieser Zusammenhang. Davon wollte ich erzählen: wie vier Männer sich auf die Suche machen, weil sie die Inspiration im Leben verloren haben-ihre Neugier, das Risiko, ihren Appetit. Das alles versuchen sie verzweifelt zurückgewinnen. Durch gezieltes Trinken.
profil: Ein Film über Alkoholmissbrauch?
Vinterberg: Eigentlich wollte ich zunächst etwas Kleineres, Provokanteres machen: eine Feier des Alkohols. Aber dann wuchs das Projekt an. Ich fand es faszinierend, wie sich Menschen verändern und erhöhen, wenn sie getrunken hatten. Alkohol half auch dabei, meisterliche Romane und große Musik hervorzubringen. Natürlich kann er Menschen töten, Familien und Gesellschaften zerstören. Wenn man sich verliebt, geschieht etwas Unkontrollierbares, ebenso, wenn plötzlich eine Idee einschießt. Man kann das nicht planen und nichts dagegen tun. Das Trinken öffnet die Tür zum Unkontrollierbaren.
profil: Alkohol ist sozial akzeptiert.
Vinterberg: Ja. Hochinteressant, oder?
profil: Paranoiker würden sagen, er habe eine gesellschaftliche Kontrollfunktion.
Vinterberg: Glaube ich auch. Aber spannender finde ich das Unkontrollierbare daran. In Dänemark trinkt jeder Mensch durchschnittlich 13,9 Liter reinen Alkohol im Jahr. Warum bin ich darauf ein wenig stolz? Ich finde da keine Antwort.
profil: Sie sind stolz auf den Alkoholismus Ihres Landes?
Vinterberg: Ja, komischerweise. Ich merke, dass ich darüber lächeln kann. Es sind oft sehr, sehr kontrollierte, rationale Menschen, die ihr Recht auf Unkontrollierbarkeit einfordern. Das finde ich gesund.
profil: Sie haben für Ihren Film offenbar viel recherchiert, auch Wissenschaftlich-Theoretisches. Die Thesen des norwegischen Psychologen Finn Skårderud etwa spielen eine wichtige Rolle. Schrieb er wirklich, dass Menschen mit ein bisschen Alkohol im Blut geboren werden sollten?
Vinterberg: Ja! Er polemisierte wohl. Er fand, dass es den Leuten an Kreativität und Mut mangelte-und dass solche Tugenden unter moderatem Alkoholeinfluss plötzlich auftauchten. Man sollte das nicht zu wortwörtlich verstehen. Es ging mir nicht um Provokation, sondern darum, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Alkohol leisten kann. Politisch, künstlerisch, gedanklich. Und durch Skårderud konnten wir vorgeben, uns auf akademischem Niveau zu bewegen.
profil: Die auf filmischen Naturalismus zielende Dogma-Bewegung ist heute 26 Jahre alt. Hätten Sie "Der Rausch" damals mit tatsächlich Betrunkenen gedreht?
Vinterberg: Nein, Schauspielen war schon erlaubt. In einem Lars-von-Trier-Film hätten vielleicht tatsächlich alle betrunken sein müssen. Wir streiten oft über solche Grundsatzfragen. Er veranstaltet am Set gern therapeutische Prozesse. Ich nenne das Amateurismus. Das macht Lars aber wütend, dann müssen wir darüber reden.
Das Interview ist in profil 16/2021 vom 18.4.2021 erschienen.