Deutscher Buchpreis: Körper, Klasse, Coming-Out
„Familie ist die Verbindung, die durch das Vererben persönlicher Traumata entsteht“ – ein Satz wie ein Schlag in den Magen. Viele Romane erzählen von Vergangenem, um die Gegenwart zu verstehen: Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Die Suche nach der eigenen Geschichte wird dabei aber nicht selten in eine logische Struktur gezwängt, die der meist verworrenen Erfahrung und Erinnerung nicht gerecht wird. Kim de l'Horizons überbordender Debütroman „Blutbuch“ unterläuft alle Erwartungen. Er findet neue, ungewöhnliche Wege, eine queere Erzählform, wie Kim de l'Horizon sagt, für eine Biografie, die ja auch nicht linear verlaufen ist. Die Suche nach einer Körperlichkeit, die nicht ins Schema männlich/weiblich passt, verbindet sich mit einer Sprache, die kreisend, tastend, fragend bleibt, die Dialektwörter, Briefe, englische Passagen, magisches Kindheitsdenken einschließt, die wie ein wilder Fluss alles in Bewegung hält. Und einen beim Lesen mitreißt.
Diese Auszeichnung sei auch „ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe“, erklärte Kim de l'Horizon bei der Preisverleihung – stimmte ein Lied an, und rasierte sich aus Solidarität mit den Frauen im Iran den Kopf.
„Ich wollte über die konstante Angst vor meinem Körper erzählen. Mit dem schrecklichsten Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut“ sagt die non-binäre Erzählfigur im Buch. Es ist eine Recherche nach den Leerstellen in der Familie, das Bemühen, zu verstehen, woher diese Angst kommt, dieses Gefühl, der eigene Körper gehöre ihm/ihr nicht. Das Schöne an dem Roman ist, dass er trotzdem keine simple Ego-Schau ist, sondern viel weiter greift, die weibliche Blutlinie in der Familie beschreibt, er zeigt, wie Mutter und Großmutter in enge Frauenrollen gedrängt wurden, obwohl sie von einem ganz anderen Leben träumten. Es geht aber auch um eine Blutbuche im Garten der Großeltern, die von sozialem Aufstieg erzählt, und um die Frage nach der eigenen Klassenzugehörigkeit: „Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Büchergestell präsentierte.“ Es gibt krasse, aber auch sehr zärtliche Sexszenen mit Grindr-Dates und Kindheitserinnerungen, die sich wie böse Märchen lesen und doch sehr real von den inneren Vereisungen der Mutter berichten.
Zehn Jahre lang hat Kim de l'Horizon, 1992 bei Bern in der Schweiz geboren, an diesem Buch geschrieben, das nun mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Ein kompromissloses Werk, das hoffentlich auch den Weg ebnet für andere literarische Erkundungen non-binärer Existenzen. Diese Auszeichnung sei auch „ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe“, erklärte Kim de l'Horizon bei der Preisverleihung – stimmte ein Lied an, und rasierte sich aus Solidarität mit den Frauen im Iran den Kopf. „A star is born“, jubelte die FAZ.