Diagnose: Überdosis - T.C. Boyles "Das Licht"
Der Mensch ist auch nur ein Tier. Der Hochschulprofessor Tim, der als Drogenguru Timothy Leary bald in die Lexika eingehen wird, stellt seinen Dissertanten Fitz vor die Wahl: entweder die ausgetretenen Pfade von Couch und Tierversuch oder Pulver und Tablette, also die Geheimrezepte der jungen Wilden der Psychologie zu Beginn der 1960er-Jahre. "Vielleicht willst du ja auch mit Skinners weißen Ratten spielen, bis du Experte für die Psychologie der Nagetiere bist", blafft Leary seinen Studenten an: "Oder vielleicht mit Tauben – operante Konditionierung, pick pick pick."
In "Das Licht", T. C. Boyles neuem Prosakunststück, übernehmen Tiere öfter die Hauptrolle. "Ich bin die Gans und du bist das Küken", erklärt Leary seinem Schüler an anderer Stelle: "Es ist wie bei Konrad Lorenz, als er die Gänseeier ausgebrütet und die Küken in eine Welt geführt hat, in der eine Mutter nicht einen Schnabel, Federn und Schwimmhäute, sondern weißes Haar, einen weißen Bart und einen Bauch voll Wiener Schnitzel hat." Im Falle von Leary muss man sich die Gans als Erotomanen mit Dauergrinsen und Hörapparat vorstellen. Die Namen seiner rasch wechselnden Geliebten klingen wie jene von Pornostars.
Schließlich noch die Geschichte mit dem Affen. Die Frau eines berühmten Musikers lebt in der von Leary gegründeten Kommune mit einem Primaten zusammen, der kreischend durch die Flure rast, die Wände mit Kot beschmiert, in Äpfeln, Orangen, Bananen seine Zahnabdrücke hinterlässt und mit ledriger Hand Pancakes klaut.
"Das Licht" ist ein Roman wie ein Rausch, ein famos nach allen Seiten ausuferndes Affentheater mit Menschen als Versuchspersonen – und LSD-Papst Leary mittendrin, der sich in Cambridge von Geisteszwergen umgeben fühlt, die sich wie zu Galileos Zeiten weigern, durch das Teleskop zu blicken, um neue Wege ins Innere abseits der Couch-Manie des österreichischen Psycho-Clowns zu erkunden.
"Das Licht" erzählt von den entscheidenden Jahren eines pharmazeutisch-psychedelischen Experiments, als Timothy Leary im mexikanischen Zihuatanejo und in Millbrook, US-Bundesstaat New York, einige Getreue um sich scharte, um mithilfe von LSD, Meskalin und Psilocybin in das Angesicht Gottes zu blicken. Als jeder mit jedem in der kleinen Kolonie ins Bett ging – weil es ohnehin in der Familie blieb. Als Menschen – Toxin in der Blutbahn und einen neuronalen Funkensturm im Kopf – mit geweiteten Pupillen an die Zimmerdecke starrten und "Das Licht! Das Licht" stammelten oder stundenlang den Putz beäugten, um dem Weiß an der Wand letzte Geheimnisse zu entlocken. Mit Lebensmittelfarbe wurde in der Wohngemeinschaft der Kartoffelbrei leuchtend grün eingefärbt, der Weißwein schwarz, der Kaffee rosarot koloriert, das Fleisch bananengelb glasiert.
Learys Geschichte stellt Boyle in "Das Licht" einen Prolog voran. Basel, 1943. Während in Europa Faschismus und Krieg wüten, entdeckt der Schweizer Chemiker Albert Hofmann als Nebenprodukt seiner Arzneimittelforschung ein Mittel mit psychoaktiven Eigenschaften: Wer LSD schluckt, notiert Hofmann, sehe wirbelnde Farben und Muster, erlebe außerkörperliche Zustände, verspüre drängendes Verlangen nach Sex. Bald geraten der Student Fitz und seine Ehefrau Joan, anfänglich konservative Hinterwäldler und Boyles fiktive Protagonisten inmitten eines historisch verbürgten Personals, in Learys Bannkreis. "Sakrament" oder "Agape" wird die tägliche Drogendosis getauft, und Fitz glaubt, den "Herzschlag der Erde" zu vernehmen. Als US-Präsident Kennedy ermordet wird, trauert die LSD-Gemeinde inniger um den am selben Tag verstorbenen Schriftsteller und Drogen-Freak Aldous Huxley.
"Lehrstücke für die Gegenwart"
Boyle, 70, ist ein Geschichte-Erzähler im besten Sinn. In seinen Romanen beschreibt er die absonderlichen Aggregatszustände der amerikanischen Historie – nicht als statisches Tableau, sondern, wie bereits der Märchen-Sammler Wilhelm Grimm wusste, als "Lehrstücke für die Gegenwart". Ein Lehrstück für die Buchbranche ist "Das Licht" schon jetzt: Der Roman erscheint diese Woche auf Deutsch – drei Monate vor der englischsprachigen Originalausgabe. Der Vorsprung erklärt sich unter anderem damit, dass in den USA der Buchfrühling tatsächlich im April beginnt – und nicht schon im Winter.
In "Das Licht" erzählt Boyle mit lässiger, jazziger Leichtigkeit von einer Zeit, in der man sich auf halluzinogener Abenteuerreise lustvoll den Gaukeleien des Gehirns hingab. Der Schriftsteller hütet sich vor retrospektiver Schlaumeierei und pseudoabgeklärter Billig-Ironie: Er lotet geschickt einen Echoraum der Geschichte aus, in dem bis heute relevante Fragen verhandelt wurden: Gemeinschaftsgefühl oder Egoismus? Treue oder Tabu? Schließlich: Wie gehen Politik und Privatleben zusammen?
Boyle, dem Großmeister kühner literarischer Bilder, dem Wortdrechsler und Metaphernschmied, kommen die galoppierenden Gemütszustände seiner von Hyperaufmerksamkeit geplagten Helden gerade recht. Ein Grinsen wird zum "Riss in der unteren Gesichtshälfte" und der Gesang einer Frau klingt nach einer "Überdosis Hustensaft mit Kodein". Dann wieder betritt ein Mann mit "einem Gesicht wie eine erhobene Axt" die Szenerie, während eine Frau unter LSD aussieht, "als hätte man sie aus einer Tube gedrückt". Boyle auf Poesie-Trip.
"Das Licht" setzt an einem historischen Wendepunkt ein. Besser wird es nicht werden. Nach der LSD-Achterbahnfahrt erscheinen die ersten Hippies am Horizont. In grellbunt bemalten Bussen, bewaffnet mit tibetanischen Räucherstäbchen, unter "All You Need Is Love"-Geheul.
Nur Fitz weiß nicht, wohin mit sich. Eine Schmeißfliege surrt während eines seiner Trips wütend gegen die Fensterscheibe, die zwischen ihr und der Eiablage steht. "Woher sollte dann die nächste Generation von Maden kommen?", rätselt Fitz. "War denn alles aus den Fugen?" Lang lebe der Exzess: "Für eine Weile war er die Fliege, und dann war er in der Fliege, ein Ei, das darauf wartete, in einem Haufen Scheiße heranzureifen."
T. C. Boyle: Das Licht. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, 380 S., EUR 25,70