Diagonale: Die heimische Filmschau gibt sich politisch
Wenn am Dienstagabend dieser Woche in der Grazer List-Halle die Weltpremiere des Justizskandalberichts "Murer" über die Bühne gehen wird, so ist dies durchaus als Signal zu verstehen, dass die Austro-Filmschau Diagonale sich auch 2018 nicht bloß als Zentrifuge allfälliger Kinoaktualitäten begreift, sondern als Festival mit kulturpolitischer Interventionsneigung. Im dritten Jahr seines Wirkens hat das junge Intendantenduo Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber der Diagonale einen Film vorangestellt, der acht Dekaden nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazideutschland an die fatale Kalmierungs- und Verdrängungsleistung erinnert, die weit über das Kriegsende hinaus im Land der Äcker bis in Regierungskreise gewirkt hat. (Siehe auch Herbert Lackners Abriss des verfilmten Falls Murer.)
In Karl Fischer hat Regisseur und Autor Christian Frosch den perfekten Hauptdarsteller gefunden; als NS-Kriegsverbrecher Franz Murer strahlt er auf der Anklagebank, konfrontiert mit den Angehörigen seiner Opfer 1963 am Landesgericht Graz, eisige Treuherzigkeit und fühllose Selbstgerechtigkeit aus. Froschs detaillierte Untersuchung des Prozesses erscheint auch deshalb so stark, weil er gerade nicht Murers Gräueltaten im Ghetto von Wilna nachstellt, weil er nicht in erster Linie auf Emotion und Pseudo-Realismus, sondern auf Analyse setzt - und weil er, in seiner scharfen Kritik nicht nur an Provinzpolitik und Bauernbündlern, sondern auch am sozialdemokratischen Populismus, zwei oder drei sehr gegenwärtig erscheinende Polemiken setzt. Es ist überaus stimmig, das Gerichtssaaldrama "Murer - Anatomie eines Prozesses" gerade in Graz, 55 Jahre nach dem skandalösen Freispruch eines nachweislich sadistischen, vielfachen Mörders, zur Uraufführung zu bringen.
Österreichs Kino als politische Anstalt und Gegenöffentlichkeit: Diese inhaltliche Neigung hat bei der Diagonale Tradition, und sie endet nicht beim Eröffnungsfilm, zeigt sich in den historischen Spezialprogrammen (etwa in der schönen Hommage an den Exil-Wiener, Autor und Kurator Amos Vogel) ebenso wie in der Auswahl der Spiel-, Dokumentar-, Kurzund Avantgardefilme. Wie sehr die gegenwärtige Kinoszene weiblich geprägt ist, hat nicht zuletzt der Dokumentarfilmpreis gezeigt, den Ruth Beckermann im Rahmen der Berlinale vor drei Wochen für "Waldheims Walzer", ihre jüngste Ar beit, erhielt. Im Programm der Diagonale 2018 herrscht, wenn man nur die Liste der eingeladenen Filmschaffenden betrachtet, beinahe Gender-Parität, aber der erste Eindruck täuscht. Es sind in der Regel kleine, niedrig budgetierte oder experimentelle Arbeiten, die Regisseurinnen vorlegen - Spielfilm-Virtuosinnen wie Barbara Albert oder Shirin Neshat bestätigen da nur die Regel. Je teurer Österreichs Kinoproduktionen sind, desto wahrscheinlicher ist es immer noch, dass sie von Männern inszeniert werden.
Strukturelle Probleme
Aber auch der privilegierte Blick auf die von weiblichen Regiekräften hergestellten Werke löst die strukturellen Probleme nicht. Es gehe ihr inzwischen auf die Nerven, in jedem Interview auf die Tatsache angesprochen zu werden, dass sie eine Frau sei, sagt etwa Katharina Mückstein, deren Coming-of-Age-Drama "L'Animale" bei der Diagonale laufen (und noch Ende dieser Woche seinen österreichischen Kinostart absolvieren) wird. "Wir sprechen jetzt vor allem deshalb über diesen Film, weil es immer noch auffällt, dass ich als Autorin und Regisseurin eine Frau zur Heldin meiner Erzählung mache. Wir nehmen das Werk zum Anlass, über das Geschlecht der Protagonistin - und über mein Geschlecht - zu reden. Das zeigt ja schon, wo wir als Gesellschaft stehen. Frauen werden zuallererst als Frauen und nur in zweiter Linie als Menschen wahrgenommen." Tatsächlich erzählt Mückstein in ihrer Arbeit auch und nicht nur nebenbei von Männern; in "L'Animale" geht es um sexuelle und soziale Identität, "und das ist ebenso ein Männer- wie ein Frauenthema, wird aber nur als Letzteres gesehen. Dabei ist die Frage, wie Männer unter Rollenzwängen leiden und in ihrer Identität eingeschränkt sind, durchaus dringlich."
Als ihr Film unlängst bei der Berlinale uraufgeführt wurde, hätten viele schwule Männer für ihn Interesse gezeigt, meint die Filmemacherin im Gespräch mit profil: "Weil er einen sehr kritischen Blick auf Männlichkeit und Heteronormativität wirft. ,L'Animale' ist ein Film über uns Menschen - und darüber, wie unfrei wir in unseren Geschlechterrollen tatsächlich sind." Sophie Stockinger, 20, brilliert als burschikos-rebellischer Teenager, der seine freie Zeit unter jungen Männern in einer Motorrad-Gang verbringt.
Durchsetzungs- und widerstandsfähige Frauen porträtiert auch die Dokumentaristin Ruth Kaaserer gern. Ihr Debüt, "Tough Cookies" (2014), handelte von jungen amerikanischen Boxerinnen, "Gwendolyn" nun von einer alternden Gewichtheberin und Anthropologin, die gegen alle Widerstände und Krankheiten auf Weltmeisterschaftsniveau weiter stemmt. "In beiden Fällen hat mich interessiert, dass es Frauen sind, die so willensstark ihren Weg gehen", sagt die Regisseurin. In "Gwendolyn" (nach dem Diagonale-Einsatz ebenfalls ab 16.3. im Kino) zeichnet Kaaserer sensitiv das Leben einer Steirerin nach, die seit Jahrzehnten in London lebt, lässt dabei das utopische Bild einer harmonisch strukturierten, multiethnischen Gesellschaft entstehen. Sie habe gar nicht so sehr eine Sozialstudie drehen wollen, sondern "einfach einen Film über eine ältere Sportlerin, weil mich das Älterwerden interessiert. Gwendolyn hat mich in jeder Hinsicht begeistert und überrascht, weil sie sich weder vom Aussehen noch in ihrem Verhalten in ein Rollenbild fügt."
Kampf für Frauenquote
Die widersprüchliche und beeindruckende Erscheinung der Gwendolyn Leick trägt diesen Film: eine körperlich schwer angeschlagene, psychisch jedoch kraftvolle Sportlerin, zugleich eine hochintellektuelle, multilinguale Assyreologin und Schriftstellerin.
Wie sehr man als Frau in der hiesigen Filmbranche oft gegen Mauern rennt, davon weiß auch Ruth Kaaserer ein Lied zu singen. Zwar hatten ihre bisherigen Filme derart kleine Budgets, dass sie keine Benachteiligung gespürt habe. Aber sie weiß: "Je größer die Förderungen, desto mehr wird das eine Rolle spielen." Den Kampf für eine Frauenquote halte sie "für sehr wichtig, weil er daran erinnert, dass noch längst kein Gleichstand existiert. Frauen werden beruflich fast überall diskriminiert. Ich habe früher beim ORF gearbeitet, weiß das also aus eigener Erfahrung." Katharina Mückstein stimmt zu: "Unsere künstlerische Arbeit wird immer noch anders eingeschätzt, weil wir Frauen sind. Das ändert sich langsam. Aber in einer sexistischen Gesellschaft wie der unseren sind ,Filme von Frauen' automatisch weniger wert. An diesem Wendepunkt stehen wir gesellschaftlich: Schaffen wir es, Frauen als Menschen, als Künstlerinnen zu sehen und ihre Arbeit vorurteilsfrei zu besprechen? Oder wie lange werden wir den Geschlechterkontext hervorheben müssen?"
Katharina Mückstein arbeitet übrigens gerade an einem Dokumentarfilm zum gegenwärtigen Stand feministischer Theorie und Praxis, entspannter Arbeitstitel: "Feminism - What the Fuck".
Die zentrale Frage, die darin verhandelt werde, sagt die Regisseurin noch, sei diese: warum Geschlechterpolitik noch immer so ein Aufreger ist.