Diagonale-Hauptpreise für „Rimini“ und „Alice Schwarzer“
So etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit ließ die Jury der diesjährigen Diagonale walten, als sie am frühen Abend des 10. April 2022 Ulrich Seidls „Rimini“ mit dem Großen Preis für den besten Spielfilm auszeichnete. Bei der Berlinale, wo die Tragikomödie des fiktiven Schlagersängers Richie Bravo, todesverachtend dargestellt von Michael Thomas, vor ein paar Wochen uraufgeführt worden war, ging der Film trotz hymnischer Kritiken leer aus.
Tatsächlich gehört Seidls neues Werk, das unmittelbar nach der Österreichpremiere bei der Diagonale auch regulär gestartet ist, aber zu den stärksten, international wahrnehmbaren Lebenszeichen des österreichischen Gegenwartskinos, das beispielsweise auch von Kurdwin Ayubs „Sonne“, einer Nahaufnahme multiethnischer Social-Media-Jugendkultur, von Sebastian Meises Gefängnisliebesfilm „Große Freiheit“, C.B. Yis Prostitutionsdrama „Moneyboys“ und „Mutzenbacher“, Ruth Beckermanns spielerischer Erkundung männlicher Sexualität, definiert wird. Beckermann, die dem Festival ihren Film mit Blick auf die Viennale im Herbst vorenthielt, fehlte im Programm allerdings schmerzlich.
Denn gerade in der Flut an in Österreich produzierten kurzen, mittellangen und abendfüllenden Dokumentarfilmen, von denen die Diagonale heuer fast 40 präsentierte, mangelt es an individuellen Ansätzen häufig – Ausnahmen wie Constantin Wulffs „Für die Vielen“ und Dariusz Kowalskis „Zwischennutzung“ bestätigen die Regel; Inhalte werden gerade in diesem Genre oft wichtiger genommen als die filmischen Lösungen, das Thema heiligt die Mittel. Als eine Art feministisches Gegengewicht zu Seidls Männererzählung wurde „Alice Schwarzer“ mit dem Großen Dokumentarfilmpreis bedacht.
Sabine Derflingers Porträt der Frauenrechtlerin lebt von der noch immer hochaktiven Titelheldin, die in vielfältigen Archivmaterialien, aber auch neu gedrehten Segmenten ihre Positionen und Lebenskämpfe rekapituliert, dabei ihren streitbaren Charakter demonstriert. Und so gerne man daher der filmischen Biografie der „Emma“-Herausgeberin folgt, die formalen Schwachstellen der Produktion, ihre dramaturgischen Unebenheiten und oft unpräzise erscheinenden Interviewfragen, sind offenkundig. Natürlich kann man der Protagonistin der Einfachheit halber nur zuhören und ihr bei der Bewältigung ihrer sehr öffentlichen Arbeit zusehen, aber die entscheidende Frage lautet am Ende doch: Wie nahe kommt dieser Film seiner (durchaus umstrittenen) Heldin wirklich? Wie sehr lässt er hinter die professionelle Fassade blicken? Insofern ist der Preis für „Alice Schwarzer“ wohl auch und vor allem einer für Alice Schwarzer.
Natürlich hatte die Diagonale als Momentaufnahme der starken österreichischen Filmsaison 2021/22 viel mehr zu bieten als bloß große Spielfilme, historische Exkurse, gewichtige Dokus oder die Arbeit des Found-Footage-Virtuosen Peter Tscherkassky, der sein Kino-Zentralmassiv „Train Again“ nach Graz sandte. In den Zonen des neuen Avantgardefilms ragten Billy Roisz’ und Dieter Kovačičs ungeahnt subtiles Science-Fiction-Experiment „do they speak color?“, Viki Kühns poetisch-fragmentarische Beziehungsstudie „Sie möchte, dass er geht, sie möchte, dass er bleibt“ sowie Borjana Ventzislavovas „We The Nature“, eine lyrische Reflexion der Klimakatastrophe, heraus.
Analog Gedrehtes wie Lilith Kraxners und Milena Czernovskys minimalistisch-faszinierender Spielfilm „Beatrix“, bildete einen eigenen geheimen Schwerpunkt: Zu den hybriden Erzählungen, in denen die Grenzen zwischen Inszeniertem und Gefundenem verschwimmen, gehörte Aleksey Lapins humanistische russische Pastorale „Krai“, gedreht vor drei Jahren nahe der ukrainischen Grenze. Man möge den Film, unter dem Druck der rezenten Ereignisse, bitte nicht neu dechiffrieren, lieber einfach nur schauen, denken, fühlen, bat Lapin vorab. Und das Regiepaar Tizza Covi und Rainer Frimmel, dessen beachtliches Werk ebenfalls zwischen Fiktion und Dokumentarischem schillert, wurde mit einer Retrospektive gewürdigt, die auch die frühe fotografische Arbeit einschloss.
Die Rolle, die der Diagonale in der Branche zukommt, geht über eine Filmleistungsschau jedoch hinaus; entscheidende filmpolitische Fragen werden hier regelmäßig öffentlichkeitswirksam verhandelt. Ein akuter Warnruf drang noch am vorletzten Spieltag via eilig einberufener Pressekonferenz aus dem Festivalzentrum in Richtung Wirtschaftsministerium: Die „Erfolgswelle“ des österreichischen Films drohe „abrupt gebrochen zu werden“, formulierte man es alarmistisch – aus allerdings guten Gründen. Denn der mit jährlich 7,5 Millionen Euro dotierte Förderungstopf einer der großen Finanzierungssäulen des heimischen Kinos, des sogenannten Filmstandorts Austria (FISA), ist nach nur drei Monaten ausgeschöpft. Dies könnte bedeuten, dass viele der für den Herbst angesetzten Dreharbeiten mangels Budgetierung möglicherweise nicht stattfinden werden. Wenn hier nicht unmittelbar gehandelt werde, heißt es, drohe ein Produktionsstopp für zahlreiche, bereits zum Großteil finanzierte Filme, somit „ein Kahlschlag in der österreichischen Filmbranche“.
Denn die FISA, angesiedelt beim Wirtschaftsministerium, stellt bis zu 25 Prozent der Gesamtbudgets von Filmprojekten. „Sollte diese Finanzierung wegfallen“, sagt die Regisseurin Marie Kreutzer, stehe „eine ganze Berufsgruppe vor dem Nichts. Und ab dem nächsten Jahr wird sich die Situation im Festival- und Kinobetrieb niederschlagen. Es würde eine Schieflage entstehen, die über Jahre zu Arbeitslosigkeit in der Branche führt.“ Alexander Dumreicher-Ivanceanu, Filmproduzent und Obmann des Fachverbands der Film- und Musikwirtschaft, fordert daher „eine sofortige und unbürokratische Aufstockung der Mittel zur kurzfristigen Lösung des FISA-Problems“. Zudem betont er die Dringlichkeit der Umsetzung eines steuerlichen Anreizmodells für Filmproduktionen: Dieses sei „im Koalitionsabkommen bereits verankert, Konzepte für eine Filminvestitionsprämie mit einem Bonus für grünes Produzieren liegen beschlussfertig auf dem Tisch. Die Umsetzung ist längst überfällig.“
Jeder in die Filmwirtschaft investierte Euro komme laut unabhängigen Studien „dreifach zurück“, erklärt der Produzent Dieter Pochlatko: Filmförderung sei „kein Geschenk, sondern ein Wirtschaftsfaktor mit 2,5 Milliarden Umsatz“. Die Schauspielerin Verena Altenberger, Präsidentin der Akademie des österreichischen Films, wandte sich in Graz daher umstandslos an die Wirtschaftsministerin und den Finanzminister: „Es geht nicht um kreatives Nice to have, sondern um 6000 Unternehmen und 15.000 Beschäftigte.“ Jetzt sei „schnelles und konsequentes Handeln notwendig, eine rasche Lösung dieser prekären Situation“ müsse gefunden werden. Der Ball liegt nun also, wie so oft, bei der Politik.