Diagonale-Preise 2023: Verlorene Seelen
Ein Reisender sei er und ein Suchender: So charakterisiert sich der griechisch-deutsche Regisseur Chris Krikellis, einstiger Absolvent der Wiener Filmakademie, in seinem reflexiv-meditativen Dokumentarfilm „Souls of a River“ selbst, in dem er eine Forschungsreise entlang der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei unternimmt; die Erzählungen einer Gerichtsmediziners, der mit schwindendem Optimismus, aber gewaltiger innerer Überzeugung tagtäglich darum kämpft, die Identitäten der toten Geflüchteten, die der Fluss Evros birgt, zu ermitteln, verbindet Krikellis mit seiner eigenen Familien- und Lebensgeschichte.
Reisende sind auch Tizza Covi und Rainer Frimmel: Ihr in Rom entstandener Film „Vera“ wurde bereits vergangenes Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig, wo er gleich zweifach prämiert wurde, sowie als Eröffnungsfilm der Viennale gewürdigt. Nun gehören „Souls of a River“ und „Vera“ zu den Siegern der am Sonntagabend im Grazer Orpheum feierlich zu Ende gegangenen Diagonale 2023; an diese beiden Werke gingen die mit jeweils 21.000 Euro dotierten Großen Preise der Diagonale für die beste Doku und den besten Spielfilm.
In den 1990er-Jahren verdingte sich Vera Gemma, Tochter des legendären Italo-Westernhelden Giuliano Gemma, als Nebendarstellerin in Kinofilmen und Fernsehserien, danach wurde ihre Auftragslage prekär, die Jobs versiegten. 20 Jahre später nahmen Covi und Frimmel mit ihr Kontakt auf, um sie in einem dokumentarisch getönten Spielfilm einzusetzen, in dem Vera eine sanft fiktionalisierte Version ihres eigenen Lebens nachspielen sollte. Das Ergebnis ist fulminant: die sensitive Charakterstudie einer verlorenen Seele, zugleich das Porträt der ganz realen Niederungen der europäischen Filmindustrie und das spannend gestaltete Protokoll einer sich erst nach und nach enthüllenden, glücklicherweise fiktiven Intrige.
Die politische Schlagseite der Diagonale manifestierte sich in ihren Auszeichnungen, die an durchwegs sozial kämpferische Werke gingen: Als bester innovativer Film setzte sich „C-TV (Wenn ich Dir sage, ich habe Dich gern ...)“ von Eva Egermann und Cordula Thym durch, eine in Sachen Queerness und Behindertengerechtigkeit engagierte Mediensatire. In der Abteilung Kurzfilm zeichnete man einerseits eine tragikomische dörfliche Alltagsstudie namens „Cornetto im Gras“ (Regie: David Lapuch) aus, andererseits Karin Bergers berührendes Zeitzeugenschafts-Dokument „Wankostättn“. Zum besten Nachwuchsfilm kürte man den halbstündigen Spielfilm „Land der Berge“, in dem Olga Kosanović scharfe Kritik an Österreichs Bleiberecht formuliert.
Der Preis für die beste künstlerische Montage im Bereich Spielfilm ging an Felix Leitner für seine Arbeit an Hans Broichs experimenteller Literaturadaption „Menuett“, im Dokumentarbereich wurde Lisa Zoe Geretschläger für den von ihr verantworteten Schnitt in „Souls of a River“ gewürdigt. Die beste Bildgestaltung sah man in Judith Kaufmanns luxuriöser Kameraarbeit in Marie Kreutzers „Corsage“ sowie in Klemens Koschers präziser Fotografie des Alterlaa-Dokumentarfilms „27 Storeys“.
Die beiden Schauspielpreise für „bemerkenswerte Auftritte in Diagonale-Wettbewerbsfilmen“ gingen an zwei lokale Größen, die über ihre Heimatstadt Graz längst hinausgewachsen sind: an Pia Hierzegger, die in dem inszenatorisch leider überzogenen Horrorfilm „Family Dinner“ als psychisch angeschlagene Ernährungsberaterin zu sehen ist, sowie an Gerhard Liebmann für seine Darstellung eines hartgesotten-verliebten Militärausbildners in Eismayer. Für seine Natur- und Trauma-Studie „I am Here!“ erhielt der Wiener Regie-Solitär Ludwig Wüst den von Kodak gesponserten Analog-Filmpreis, als beim Publikum beliebtestes Werk erwies sich Katharina Mücksteins farbenprächtige Theorie- und Grundlagenforschungsarbeit „Feminism WTF“.