Didier ERIBON, Jg. 1953, französischer Autor, Soziologie und Philosoph im Februar 2017 im Wiener Hotel Wandl
Literatur

Didier Eribon: Auf der Suche nach dem verlorenen Leben

Mit „Rückkehr nach Reims“ eroberte der Pariser Paradeintellektuelle vor 15 Jahren die Bestsellerlisten. Nach dem verhassten Vater rechnet er in seinem neuen Buch mit der Mutter ab.

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Didier Eribon, geboren 1953 in Reims, der historischen Region Champagne-Ardenne im Nordosten Frankreichs, ist Soziologe, Autor und Philosoph, der sich mit seinem 2009 im Original erschienenen autobiografischen Essay „Rückkehr nach Reims“ in der Fantasie des Lesepublikums nachgerade zum Epochenerklärer qualifizierte.

In „Rückkehr nach Reims“, 2016 in deutscher Übersetzung veröffentlicht, bündelt sich vieles: Familiengeschichte, autofiktionales, durch den Literaturnobelpreis an Annie Ernaux final geadeltes Erzählen, Politikanalyse, Soziologie, Ortsrückkehr in eine intolerante Welt fusselfreier Reinlichkeit, die dem Rechtspopulismus erlegen war.

Eribons eigene Geschichte ist damit unentwirrbar verwoben. Er legte im Buch die Schichten jener biografischen Sedimente frei, denen er mit aller Gewalt entfliehen wollte, die an ihm jedoch buchstäblich hautnah kleben blieben. Es war für einen der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Frankreichs lange Zeit zentraler Teil der eigenen Legende, als Pariser Paradedenker mit diversem Freundeskreis seine verhasste Herkunft, das vorhöllengleich imaginierte Reims, auf alle Zeiten hinter sich gelassen zu haben. Viel Triumphierendes im Blick zurück im Zorn.

Wären da nicht diese drängenden Fragen gewesen. In Eribons Büchern – siehe „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ (1999/2019), „Gesellschaft als Urteil“ (2013/2017), „Michel Foucault“ (1989/1991) – werden viele Fragen gestellt, wobei jede Antwort neue Fragen aufwirft. „Wer war diese Frau? Was für ein Mensch?“, notiert er in seinem neuen Buch „Eine Arbeiterin“, das vom Leben, Arbeiten und Sterben seiner Mutter erzählt: „Was für eine Meinung hatte sie zu den kleinen und großen Ereignissen der Zeit gehabt, die sie durchlebt hatte? Wen hatte sie geliebt?“ Vielleicht ist das Fragenstellen nicht die schlechteste Methode, sich dem Denken und Schreiben Didier Eribons anzunähern.

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.