Inwiefern unterscheiden sich „Eine Arbeiterin“ und „Rückkehr nach Reims“?
In Nuancen, was beiden Büchern zugutekommt. „Eine Arbeiterin“ wirkt wie die nahtlose Fortschreibung von „Rückkehr nach Reims“, das vor 15 Jahren den Ton setzte. Hier wie da setzt das Erzählen mit einem Todesfall ein. Eribons Mutter stirbt 87-jährig in einem Altersheim im Ort Fismes, rund 30 Kilometer nordwestlich von Reims gelegen, nachdem sie ihre Söhne dorthin gebracht hatten; was bei Sohn Didier sehr grundsätzliche Gedanken über ein Frauenleben im 20. Jahrhundert zur Folge hat, die in eine Generalanklage münden: „Genügt es, über alte Menschen zu sprechen und ihre Stimme in die Öffentlichkeit zu tragen, damit sie – wenn auch indirekt – gehört werden? Damit ihre Stimme etwas bewirkt?“
Gewiss, Eribon erzählt auch hier, so prätentiös wie überinstrumentalisiert, vom Podium des Alleswissers herab, dem kein Zitat aus Weltliteratur und Fachklassikern fremd zu sein scheint. Keiner macht ihm jedoch so schnell nach, wie er sich mit den Werkzeugen der Soziologie durch Lebensgeschichten und das Dunkel der Zeiten theoretisiert – und dabei nie die Brücke zum Alltag scheut. „Eine Arbeiterin“ und „Rückkehr nach Reims“ sind klug zusammengepuzzelte Selbstporträts und buntfleckige Milieuwimmelbilder mit enormer Innenspannung: „Eine Arbeiterin“ ist Abrechnung mit der rassistischen Mutter und späte Annäherung an eine Unbekannte, Abspaltung und Verschmelzung. „Familienbande“ muss in Eribons Ohren wie ein Begriff aus der Petrochemie klingen: „Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts.“
Zweimal besucht der Sohn die Mutter in Fismes, ehe sie dort einen einsamen Tod findet. „Eine Arbeiterin“ ist nicht zuletzt das Dokument einer grandiosen Selbstzerknirschung: „Söhne noch lebender Mütter, vergesst nicht, dass eure Mütter sterblich sind“, zitiert Eribon den Schweizer Schriftsteller Albert Cohen: „Kein Sohn weiß wirklich, dass seine Mutter sterben wird, und alle Söhne ärgern sich über ihre Mütter und sind ungeduldig mit ihnen, diese so bald bestraften Narren.“
Ist man stets Kind seiner Zeit?
Eribon gibt wenig bis nichts aufs Psychologisieren und Innenleben-Durchstöbern: Soziologie statt Seelenkunde. Man ist Kind und Erwachsener seiner Zeit, ein Opfer der Umstände: „Das Leben nahm seinen Lauf“, ist in „Eine Arbeiterin“ vermerkt: „Es war, wie es war!“ Eribons Vater, der in den Büchern des Sohnes wohl aus gutem Grund nie beim Vornamen genannt wird, war ein Schreier und Schläger, ein „dummer und gewalttätiger Mensch“: „Er hatte mich gezeugt, ich trug seinen Namen, ansonsten war er mir egal.“ Männlichkeit um jeden Preis, Frauenfeindlichkeit, Rassismus: Das waren die Kategorien in der Welt des Vaters, der sich sein Bild von der Realität aus sehr groben Klötzen gezimmert hatte. „‚Sei nicht so hart mit ihm, er hat’s nicht leicht gehabt im Leben‘“, kalmiert die Mutter in „Rückkehr nach Reims“.
Eribons Vater wurde 1929 als ältestes von zwölf Kindern geboren. Während der deutschen Besatzungszeit in Frankreich musste er als Halbwüchsiger Essen für die Familie auftreiben; 1950 heirateten Eribons Eltern, der Vater war 21, die Mutter 20. Nach 55 Ehejahren und 42 Arbeitsjahren in einer Fabrik, die ihn ungefragt in Frührente schickte, starb der Vater, schwer an Alzheimer erkrankt, am 31. Dezember 2005.
Das Leben der Mutter im Schnelldurchlauf: ungewolltes Kind, das im Waisenhaus groß geworden war; mit 14 zu arbeiten begonnen, erst als Dienstmädchen und Reinigungskraft, dann als Fließbandarbeiterin in einer Glasfabrik; mit 87 ins Altenheim, langsames Sterben. „Es ist ein ehernes Gesetz der menschlichen Existenz, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann.“
Ist das Persönliche vom Politischen zu trennen?
Nie. „Rückkehr nach Reims“ erkundete neben der zögerlichen Annäherung an Mutter und Vater, wie ein ehemals marxistisches bis linkes Kernland zur rechtsextremen Hochburg werden konnte. Im Département Marne, dessen kulturell bedeutendste Stadt Reims ist, stimmten 2017 im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 56 Prozent für Marine Le Pen von der rechtspopulistisch bis rechtsextrem eingestuften Partei Rassemblement National; 44 Prozent für Emmanuel Macron, der frankreichweit mit über 66 Prozent zum Präsidenten für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt wurde; 2022 waren es 62 Prozent für Le Pen und 38 Prozent für Macron. „Was bedeutet es für die Konstitution als politisches Subjekt, wenn Leute plötzlich eine rechtsextreme Partei und eine Spitzenkandidatin unterstützen, denen sie bis dahin mit geradezu aggressiver Ablehnung begegnet sind?“, fragt Eribon in „Rückkehr nach Reims“: „Nachdem die spontane Wahrnehmung der Welt als Gegensatz zwischen ‚den Franzosen‘ und ‚den Ausländern‘ erst einmal in der politisch-medialen Sphäre angekommen war, konnte diese Kategorie mit umso größerer Selbstverständlichkeit in Gespräche im Familienkreis eindringen, in banalste Wortwechsel beim Einkaufen, auf der Straße, in der Fabrik.“ In „Eine Arbeiterin“ versucht sich Eribon an der Antwort auf die Frage: Wo sind die Arbeiterinnen und Arbeiter? „Die meisten von ihnen sind tot. Wo sind ihre Kinder und Enkel? Sie haben prekäre, befristete Jobs oder sind langfristig arbeitslos.“ Wohin, wundert sich Eribon, ist die kollektive Stärke der Arbeiterschaft entschwunden?
Welche Bilder verdichten die Lebensgeschichte der Mutter?
Dem Soziologen Eribon geht es ums Ganze. Der Lebenslauf der Mutter soll für eine Generation von Frauen stehen, deren Dasein ein zähes, wunschloses Unglück in vakuumgleicher Umgebung war: „Ich habe nie auch nur das kleinste Anzeichen für Zuneigung, geschweige denn Liebe zwischen ihnen beobachtet“, summiert Eribon die Ehe seiner Eltern. „Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich.“ Der Sohn flüchtet sich nicht in einen Strom aus Erinnerungen und Schwärmereien. Er bleibt der kühle Analytiker, der um den Surrealismus seines Vorhabens, ein auch nur halbwegs erschöpfendes Bild seiner Mutter zu malen, genau Bescheid weiß. Das Letzte, was Eribon will: so tun, als hätte er das Leben und Sterben seiner Mutter enträtselt. Annäherungen in Alltagsszenen stehen für das ganze Menschenbild.
Nach der Arbeit in der Fabrik setzte sie sich in einen Sessel und schlief eine Viertelstunde. „Anschließend begann ihr zweiter Arbeitstag: einkaufen, kochen, Geschirr spülen.“ Die Mutter liebte TV-Serien, die damals noch Seifenopern genannt wurden; in Krimis war sie regelrecht vernarrt. Der Schauspieler Alain Delon war ihr Held. „‚Mein Alain‘, sagte sie immer wieder, wenn ein Film mit ihm im Abendprogramm lief, ‚so ein schöner Mann, ich bin ganz verliebt in ihn.‘ Damit trieb sie meinen Vater zur Weißglut, was sicher die erhoffte Wirkung war.“ Mutter und Sohn sitzen zusammen am Tisch. Sie starrt durchs Fenster nach draußen. Der Sohn fragt, neugierig geworden, was da sei. Die Mutter: „Ich sehe mir die Bäume an. Die fallenden Blätter. Das ist doch seltsam.“ Der Sohn: „Das nennt man Herbst.“ Die Mutter: „Was du nicht sagst? Du bist nicht der Einzige, der sich Gedanken macht.“
Am Ende siegt der Schmerz des Sohns über dessen Unversöhnlichkeit: „Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit.“
Nachtrag: Was hatte die Formel I mit dem Leben der Mutter zu tun?
Eribons Mutter konnte im Fernsehen stundenlang den über Formel-1-Circuits jagenden Autos zuschauen. „Ich wäre gern Rennfahrerin geworden“, gestand sie eines Tages dem Sohn. Didier Eribon ist ein Meister im Auflösen des Dahingesagten, das bekanntermaßen seine eigenen Spiele mit der Wahrheit treibt. Er analysiert: „Im immensen Ozean der Unmöglichkeiten eines Lebens, das immer nur aus Notwendigkeiten und nicht aus freien Entscheidungen bestanden hatte, konnte sie auf diese Weise wenigstens ihre wildesten Fantasien ausleben.“ Im Tagtraum die freie, draufgängerische Frau, gar Formel-1-Pilotin. In der Gewöhnlichkeit der Realität die Arbeit als Reinigungskraft und Fabrikarbeiterin, dazu ein Eheleben, das sich ein halbes Jahrhundert lang zu einem Mahnmal der Lieblosigkeit auftürmte. „Meine Mutter konnte von all den Chancen, die ihr das Leben nicht geboten hatte, von all den Wegen, die ihr aufgrund von Armut als junges Mädchen versperrt gewesen waren, nur träumen.“