Vicky Krieps als Kaiserin Sisi in "Corsage".

Schauspielerin Vicky Krieps: Die Amazonasforscherin

Die Schauspielerin Vicky Krieps hat in den vergangenen fünf Jahren eine Kino-Weltkarriere hingelegt. Sie ist davon unbeeindruckt.

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Zu behaupten, diese Frau sei nicht zu fassen, ist in ihrem Fall ausnahmsweise nicht leere Rhetorik. Die Schauspielerin Vicky Krieps, 38, ist tatsächlich schwer zu ergründen, in der persönlichen Begegnung ebenso wie angesichts ihrer Charakterdarstellungen. Die Menschen, die sie trügerisch leise spielt, besitzen eine Tiefe, die sich in einen bodenlosen Schlund verwandeln kann. Ihre unkonventionelle Schönheit leuchtet durch europäische Alltagserzählungen ebenso stimmig wie durch Hollywoods weltferne Glamour-Fiktionen. Ihr Spiel ist zurückhaltend, als wollte sie nicht alles, was eine Figur ausmacht, auch offenbaren, als gehe es darum, ein Geheimnis, ein Rätsel intakt zu halten, als habe sie vor, ihre Charaktere nicht so sehr zu erklären, als vielmehr: zu beschützen.

Als Kinodienstleisterin versteht sie sich offenkundig nicht; sie gibt nicht nur, sondern fordert auch ein, zum Beispiel Konzentration und Assoziationsfähigkeit: Man muss schon ein bisschen genauer hinschauen, um die subtilen emotionalen Metamorphosen, die sie darzustellen weiß, begreifen zu können. Ihr Publikum nimmt sie so ernst, dass sie ihm jede Gelegenheit nimmt, auf Durchzug zu schalten. "Die Maschinerie des populären Films interessiert mich am Ende weniger", sagt sie. "Leider langweilt mich das meiste schnell. Viele Menschen sind mir zu langsam, auch im Denken. Mir geht es letztlich um die Philosophie: Was wollen wir verstehen, was noch keiner verstanden hat? Und wie wollen wir das erreichen? Ich will den Dingen auf den Grund gehen."

Auch deshalb passt Vicky Krieps längst nicht in alle Zusammenhänge, dazu ist ihr Spiel zu speziell und ihre Aura zu widerborstig. In einem Film wie M. Night Shyamalans generalverunglücktem Schnellalterungs-Schocker "Old" (2021) kann man dabei zusehen, wie sich diese so faszinierende Schauspielerin (inmitten eines insgesamt merklich alleingelassenen Ensembles) in einer sehr technisch orientierten Produktion regelrecht verliert, keinen Halt, keinen Rahmen, kein Gefühl mehr findet. Das Gegenbild dazu ist Marie Kreutzers Sisi-Fantasie "Corsage", die diese Woche, nach der Uraufführung in Cannes, auch Österreichs Kinos erreicht. Krieps spielt die Kaiserin unerhört vielschichtig, vielgesichtig und letztlich sehr mysteriös: als widerständige, aber angeschlagene Frau um die 40, in einer Lebenskrise; sie raucht, trickst, leidet, entzieht sich. Ihrem latenten Masochismus entkommt sie nicht. In vielerlei Hinsicht ist "Corsage", dem Titel gemäß, eine Studie der gewaltsamen Zurichtung weiblicher Psychen und Körper.

Die Freiheit, die sich dieser Film im Umgang mit der Habsburger-Historie nimmt, teilt sich unmittelbar mit; in "Corsage" wird nicht rekonstruiert, sondern imaginiert, das Leben der unglücklichen Kaiserin in aller Ungebundenheit nachempfunden, neu erzählt, eigentlich: geträumt. Das ausgehende 19. Jahrhundert trägt hier starke Züge des 21. (exzellente Kameraarbeit: Judith Kaufmann), Backenbärte erweisen sich als bloß angeklebt, das Filmmedium wird, anders als in Wirklichkeit, bereits in den 1870er-Jahren erfunden. Die sanften Popsongs, die den Film begleiten, verstärken den Eindruck des subtil Surrealen noch. Als "sehr unberechenbar" bezeichnet Kreutzer ihre Hauptdarstellerin – "was ich an ihr liebe". Diese sei "total erstaunlich und aufregend; ich weiß selbst nie, was passieren wird, wenn die Kamera läuft. "Man dürfe niemals versuchen, Vicky Krieps zu zähmen.

Ein heißer Mai-Nachmittag im kleinen Garten eines architektonisch etwas missratenen Hotels namens Croisette Beach, unweit des Zentrums von Cannes. Vicky Krieps absolviert hier geduldig ihre Interviews, am Tag vor der Premiere, aber wie sie da sitzt, in Freizeitkleidung, das Gesicht von einer blassrosa Baseballkappe verschattet, ist sie auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Sie spricht mit leiser Stimme, ganz konzentriert, hat auch in Cannes kein Interesse daran, durch ihre Präsenz Aufsehen zu erregen. Ihre Sisi-Faszination reicht weit zurück, erzählt sie. "Sie kam mir so fremd vor, ließ mich nicht los. Sie bleibt ein Mysterium. "Nach der Arbeit an der Figur der Elisabeth sieht die Schauspielerin ein wenig klarer. "Ich habe nun ein Bild von dem Abgrund, den ich davor allenfalls geahnt hatte. Ich verstehe ihn immer noch nicht, aber ich sehe jetzt, dass diese Frau etwas sehr Dunkles in sich hatte, eine große Traurigkeit."

Historische Figuren spielt Vicky Krieps oft und gerne: Demnächst wird sie als Ingeborg Bachmann in Margarethe von Trottas neuem Film zu sehen sein, sie hat 2017 Jenny Marx verkörpert in "Der junge Karl Marx" und Marvin Gayes Freundin Eugenie Vis in Julian Temples bereits 2013 gedrehtem, noch immer unveröffentlichtem Film "Sexual Healing". Braucht sie die Freiheit, sich von den historischen Vorbildern zu lösen, um diese darstellen zu können? Oder unterfüttert sie ihr Spiel vor allem mit Recherche? Das sei eine Mischung, sagt sie. "Recherche mache ich, weil ich ein neugieriger Mensch bin, mich für die Wahrheit interessiere. Frei bin ich, weil ich nicht an Antworten glaube, sondern an Fragen. Ich glaube nicht an Strukturen, sondern an das, was außerhalb liegt. Um arbeiten zu können, muss ich frei sein; alles andere kommt mir so künstlich vor, als wollte ich bloß meine Hausaufgaben gut machen. "Sie betreibe ihren Beruf ja "wegen der Suche", da sei sie "wie eine Wissenschafterin, die nicht aufgibt, bis sie alle Pflanzen im Amazonas einmal angeschaut hat. Aber während ich das mache, weiß ich nicht, was ich da tue. Deshalb brauche ich diese Freiheit, auch wenn der Stoff historisch ist." Und dann sagt sie einen dieser typischen, kreativ-unbestimmten Krieps-Sätze: "Ich muss, während ich das alles mache, das Gefühl haben, ich flirre irgendwie außerhalb dessen, was ich selbst verstehe."

Erst 2011 spielte Vicky Krieps ihre erste Kinohauptrolle, stieg also vergleichsweise spät ins Filmgewerbe ein. "Ich komme aus Luxemburg, dort hat man den Komplex der kleinen Länder. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich je in einem Film spielen würde, nicht einmal im Fernsehen. Das machten nur Menschen aus Berlin, Paris oder London." Aber der Traum war sehr früh da. Schon als Kind habe sie Filme geliebt, nachdem sie Jean Cocteaus Märchen-Klassiker "Die Schöne und die Bestie" gesehen hatte. "Ich wollte Teil jener Leute sein, die solche Fantasiewelten aufbauen können." Aber die Vernunft trug einen Etappensieg davon: Sie dachte, sie werde "Anwältin oder so", etwas "Richtiges" halt. "Dann lebte ich eine Weile in Afrika, und wenn man einmal weit von zu Hause weg ist, kann man anders darauf schauen. Diese Erfahrung führte dazu, dass ich mich traute, an Schauspielschulen überhaupt vorzusprechen. Schon das erschien mir verrückt. Ans Kino wagte ich zunächst gar nicht zu denken, wenn überhaupt, dann nur ans Theater. Und dann fiel mir das alles in den Schoß" – und das klingt weniger kokett, als es sich liest. Die Berliner Casterin Simone Bär entdeckte Vicky Krieps und begann sie erfolgreich zu vermitteln.

Dann kam ihr erstes Kind, sie war 27, wenig später das zweite. "Da sagte man mir, dass meine Karriere nun leider vorbei sei. Musste ich nun für immer daheimbleiben? Nach sechs Jahren Kinderintensivbetreuung war mein Hunger nach dem Drehen groß." Und all jene, die ihr süffisant das Ende ihrer Laufbahn prophezeit hatten, standen blamiert da. Denn Krieps hat in den vergangenen fünf Jahre, seit ihrem Auftritt in Paul Thomas Andersons Liebes- und Textildrama "Der seidene Faden" (2017, an der Seite des Briten Daniel Day-Lewis), eine veritable Weltkarriere hingelegt. Und ihr Hunger nach dem Kino erscheint unstillbar. In zwei Dutzend Filmen und Serien war sie allein im letzten halben Jahrzehnt zu sehen. Sie hat mit Barry Levinson und Mia Hansen-Løve gedreht, mit Raoul Peck, Daniel Brühl und Emily Atef, für die sie in "Mehr denn je" (ab Herbst im Kino) eine kämpferische Todkranke spielt.

Einen Karriereplan habe es jedoch nie gegeben. Vor "Der seidene Faden" habe sie sehr wenig gearbeitet, nur kleinere Produktionen mit jeweils ein paar Drehtagen. "Aber der Wunsch, das aufzubrechen, wurde immer größer, gerade als Frau. Als es dann möglich war, kam der Lockdown, in dem ich nur, Old' gedreht habe. So entstand eine Art Projektstau. Wenn ich danach gesagt hätte, ich mache entweder Emily Atefs oder Marie Kreutzers Film nicht, hätte ich nicht nur einer von beiden das Herz gebrochen, sondern auch mir selbst." Aus pandemischen Gründen sei es dann gar nicht anders machbar gewesen, als beide Filme zeitgleich zu drehen, "was der absolute Wahnsinn war".

Welche Schutzschicht besitzt sie, um den Irrsinn der jähen Popularität abzuwehren? "Ich habe nur meine Sturheit. Nach, Der seidene Faden' hab ich natürlich auch gemerkt, dass das eigentlich der Moment wäre, sich auf bestimmte Weise neu zu verhalten, sich diesen Schutzmantel zuzulegen. Aus Trotz hab ich mich dem aber immer verweigert. Ich wollte mich nicht verändern; warum sollte ich plötzlich anders mit den Menschen reden, ihnen nicht mehr zuhören? Das hält mich komischerweise am Ende im Gleichgewicht, es schützt mich. Ich höre jeder Person, egal, wer sie ist, immer wirklich zu. Dann kann mir nichts passieren, dann bin ich lebendig." Es gehe um die Wertschätzung des Moments, nicht um die Planung scheinbar wichtigerer Dinge. "Ich denke auch jetzt nicht an die Premiere morgen, nicht daran, was ich tragen werde. Man würde meinen, das sei eine Schwäche, aber es wurde zu meiner Stärke."

Auch am Set sei das so: "Wenn ich mit Marie arbeite, bin ich mit Marie. Wir sind dann wie Kinder, die sich einen Streich überlegen. Wir denken dann eben nicht darüber nach, wo und wie dieser Film einmal gezeigt oder beurteilt werden wird: Wird das hoffentlich gut? War ich jetzt toll? Daran denken wir nicht. Ich weiß, dass ich nicht immer mein Bestes geben kann, das wäre übermenschlich. Aber ich halte mich nicht damit auf, darüber nachzudenken, ob etwas falsch läuft." Einen idealen Regisseur hat sie ohnehin bereits gefunden: Paul Thomas Anderson. "Er ist es, und er weiß es auch. Das sagen alle, die mit ihm gearbeitet haben. Aber Marie Kreutzer ist da sehr nah dran. Weil auch sie versteht, dass es etwas gibt, das man nicht begreifen, nur einladen kann, wenn wir drehen. Liv Ullmann meinte einmal zu mir: A good director knows that the actor knows." Man müsse sich "von seinem Ego so befreien, dass da ein Raum entsteht, der mit etwas, nennen wir es Inspiration, gefüllt werden kann." Dieser Raum müsse von der Regie aber erst geöffnet werden, dann könne man diesen "mit offenem Herzen betreten". Dann könne etwas entstehen, an das davor niemand gedacht hatte. "Das ist, was sich anschließend auf der Leinwand so echt anfühlt, wo man Gänsehaut bekommt, ohne zu wissen warum."

"Schlau und furchtlos" hat die "New York Times" Vicky Krieps genannt. Aber ist sie das wirklich, wenn sie spielt: angstfrei? Das sei "ganz komisch", denn in Wahrheit sei sie "unglaublich sensibel, wie Elisabeth eben auch. Man geht in die Welt und ist nackt, ohne Schutzmantel. Ich funktioniere eigentlich ganz schlecht in Situationen wie hier, wo man einander die Hand schüttelt, da ecke ich andauernd an, weil ich viel zu, sagen wir: roh bin. Und gleichzeitig hab ich aber tatsächlich keine Angst, ich verstehe selbst nicht, wie das funktioniert." Eine These hat sie dann aber doch parat: "Wenn man einmal nackt ist, hat man auch nichts mehr zu verlieren. Dazu kommt ein kleiner Größenwahn, den ich vielleicht von meinem Großvater habe. Er war Politiker, im KZ gewesen, und er brannte für seinen Job. Er schaffte die Todesstrafe in Luxemburg ab, wollte die Welt verändern."

Die Welt verändern, das muss das Ziel sein. Billiger kann man es nicht geben. "Wenn ich arbeite, gehe ich einfach los. Das wirkt dann furchtlos."

Inzwischen lebt Vicky Krieps, wenn sie nicht gerade für Dreharbeiten um die Welt reist, hauptsächlich in Berlin, wo ihre Kinder sind. Zu viele Drehbücher erreichen sie gerade, gibt sie zu. Ob sie eher nach großartigen Storys, spannenden Regiepositionen oder bestimmten Schauspielpartnern sucht, das weiß sie selbst nicht. Es sei "auf jeden Fall eine große Neugierde" in ihr. Und eine Figur, die sie sich erschließen will, müsse von Anfang an mit ihr reden.

Eine gewisse Erschöpfung macht ihr an jenem Nachmittag im Mai zu schaffen. "Neuerdings denke ich manchmal, ich will vielleicht nur noch lesen, schreiben, Musik machen. Aber klar: Wenn dann ein gutes Drehbuch kommt und ein toller Regisseur sein Interesse bekundet, werde ich wieder zur Amazonasforscherin." Neugier sticht Rückzugswunsch. Zum Glück. Das Kino braucht expeditionsfähige Kräfte.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.