Die große Illusion: Die Hintergründe der Streiks in Hollywood
Glanz und Elend liegen in Hollywood nah beieinander. Während Greta Gerwigs feministische „Barbie“-Comedy einen triumphalen weltweiten Kinostart hinlegte und sogar ein sprödes historisches Dreistunden-Epos wie „Oppenheimer“ der pandemiebedingten Kinokrise den Mittelfinger zeigt, steht die US-Filmindustrie still. Seit 2. Mai 2023 streikt die Writers Guild of America (WGA), die Gewerkschaft der Drehbuchautorinnen und -autoren, um ihre Forderungen beim Produzentenverband (AMPTP) durchzusetzen. Mitte Juli hat sich dieser Arbeitsniederlegung die viel größere, mehr als 160.000 Menschen repräsentierende US-Schauspielgewerkschaft SAG-AFTRA angeschlossen. Eine Streik-Allianz dieser Größe hat Hollywood seit 1960 nicht mehr erlebt.
Und es geht um Gewichtiges, keineswegs nur um mehr Geld. Neben der Forderung nach besserer Abgeltung durch die – ihre Zahlen unter Verschluss haltenden – Streamingdienste steht die Panik vor den unabsehbaren Konsequenzen eines unregulierten Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) im Zentrum der Zwangsverhandlungen. Denn die Dystopie einer Kino- und TV-Landschaft, in der Drehbücher von Maschinen generiert werden und Schauspielkräfte gescannt, ihre Abbilder anschließend digital verwertet werden, sorgt für Unwohlsein. Der Tod ist in Hollywood keine Grenze mehr: Ein neuer Film, in dem der 1955 verstorbene James Dean die Hauptrolle spielen wird, ist in Planung.
„Schande über sie!“
Eine „gierige Elite“ mache Darstellerinnen und Darsteller zu Opfern, sagt die Schauspielerin und Präsidentin ihrer Gewerkschaft, Fran Drescher: Die Studios und die Streamer „führen Armut ins Treffen, behaupten, dass sie überall Geld verlieren, während sie ihren CEOs Hunderte Millionen Dollar in die Taschen stopfen. Es ist ekelhaft. Schande über sie.“
Dagegen marschieren derzeit Tausende durch Amerikas Straßen, denn es geht ums Überleben, um die Sozial- und Krankenversicherungen vor allem jener, die meist bloß Nebenrollen spielen oder monatelang für geringe finanzielle Gegenleistungen an Drehbuchentwürfen arbeiten, die in der Regel niemals umgesetzt werden. Es ist eine proletarische Revolution, die von solidarisch mitwandernden Film- und Serienstars wie Lupita Nyong’o, Bob Odenkirk, Susan Sarandon und Olivia Wilde, Jessica Chastain und Bryan Cranston medienwirksam unterstützt wird. Wie berechtigt die Befürchtung ist, dass eine fundamental gewandelte Filmindustrie der schönen neuen Welt eines vollsynthetischen Kinos verfallen ist, zeigt ein Jobangebot, das Netflix vor wenigen Tagen online gestellt hat. Man suche eine Person mit KI-Expertise, Jahresgehalts-Obergrenze: 900.000 Dollar.
Drehbücher? Schauspiel? Unnötig!
„Wir haben schon Angst. Alle. Das ist brutal“, sagt etwa der Kameramann Oliver Bokelberg, 58, im Gespräch mit profil. „Das Schlimmste ist, dass keiner weiß, wie es weitergehen wird.“ Seit 15 Jahren lebt der gebürtige Hamburger mit seiner Familie in Los Angeles. Mitte der 1980er-Jahre hatte er in New York studiert, später jahrelang HipHop-Videos in Szene gesetzt, ehe ihn der Filmemacher Michael Kreihsl nach Wien geholt hat, wo man gemeinsam die Filme „Charms Zwischenfälle“ (1996) und „Heimkehr der Jäger“ (2000) drehte. Inzwischen hat sich Bokelberg im Serien-Geschäft etabliert, führt – seit 2010 meist beim TV-Sender Disney-ABC engagiert – bei starbesetzten Projekten wie „Scandal“ (2012–2018), „Alaska Daily“ (2022) und „Will Trent“ (2023) nicht nur die Kamera, sondern auch Regie.
Er lebt in den Hollywood Hills und verfolgt das Geschehen mit gemischten Gefühlen: Vor seiner Haustür sei „ordentlich was los“, sagt er, und natürlich sei er mit den Streikenden solidarisch. Die Veränderung sei unübersehbar. „Im ABC-Programm für die kommende Saison ist bis zur Winterpause nichts Neues drin: keine dramatischen Serien mehr, nur noch Wiederholungen, ‚Der Bachelor‘, Reality- und Game-Shows.“ Formate also, für die man weder Drehbücher noch Schauspiel braucht.
Ein darwinistisches Drama zeichnet sich ab, eine brutale „natürliche Auslese“ auf allen Ebenen, verstärkt durch Post-Covid, die Inflation und die tiefe Krise der Streaming-Plattformen selbst. „Eine Art Vorahnung scheint in der Luft zu liegen“, stellt der Drehbuchautor und ehemalige Philosophieprofessor Charles Randolph fest, „so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm“.
Call my Agent!
Das Streaming-Business habe Normen und Regeln, die größtenteils von Netflix etabliert wurden. In einem „reiferen Markt“ würden sie nicht funktionieren, meint Randolph. Deshalb rege sich immer mehr Widerstand gegen Netflix. Interessant sei übrigens, so Randolph, dass Hollywood keine festgelegten Regeln habe. Es gebe für viele Situationen keine Best-Practice-Beispiele. So hätten die Agenturen an Macht gewonnen, die ihre Klientel oft dubios beratschlagen.
Die Situation ist verfahren, die hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen stagnieren, während alle Film-Gewerke in Mitleidenschaft gezogen sind. Der Ton sei „sehr rau geworden“, meint Bokelberg. „Die Produzenten haben unlängst kühl mitgeteilt, dass sie es nun darauf anlegen, dass die Schreibenden ihre Wohnungen verlieren werden.“ So lange werde man warten, „dann werden die Vertragsverhandlungen wohl leichter. Das ist schon heftig.“
Den Zustand seiner Branche sieht Bokelberg skeptisch: Das Modell Hollywood habe sich stark verändert durch die Streamer und Silicon Valley, da sei „eine andere Mentalität“ eingekehrt. Im alten Studiosystem habe es Handschlagqualität gegeben. Heute gehe nur noch um Ergebniszuwachs und Reingewinn. „Man hat sich gewundert, wie lange da locker das Geld geflossen ist, wie leichthändig Verträge über Hunderte Millionen vergeben wurden. Das Bodenpersonal aber hatte davon nichts. Da wurde Geld verschwendet.“ So „golden“ werde es nicht weitergehen.
Ein Gespenst geht um
Das Phantom der künstlichen Intelligenz wird sich dauerhaft einnisten. Eine von den Gewerkschaften geforderte gesetzliche Beschränkung des KI-Einsatzes sieht Bokelberg nicht kommen. „KI sollte und müsste kontrolliert werden, aber das ist in Amerika nicht realistisch.“ Er glaube auch, dass KI fertige Drehbücher schreiben werde. „Die Filme werden dadurch nicht besser werden, nur technisch perfekt. Aber das charmant Fehlerhafte, das Menschliche eben, wird uns fehlen.“ Die entscheidende Frage sei doch diese: Wer wird die Filme der Zukunft sehen? „Die nächste Generation arbeitet und denkt ja schon jetzt intensiv mit TikTok, YouTube und filmischen Kurzformen. Ob unser alter Film das überleben wird, weiß ich nicht.“
Die Disruption wird zu spüren sein, nicht nur in den Programmen der Streamer und Verleiher. In wenigen Wochen werden wohl auch die großen Festivals in Locarno, Venedig und Toronto weitgehend ohne amerikanische Filmstars auskommen müssen. Die Gewerkschaft vergibt zwar Ausnahmeregelungen für Projekte, denen man erhöhte Medienaufmerksamkeit wünscht, aber die roten Teppiche werden veröden. Hollywoods Verflüchtigung geht voran. Die Filmindustrie träumt sich ins Metaverse: Eine Sterbende fantasiert von der Körperlosigkeit, von der Reise ins Immaterielle eines maschinenkontrollierten Unterhaltungsgewerbes. Kampflos wird dies nicht stattfinden. Die Datenräume können warten.