Vermessung der Infamie
25 Namen sind auf der Gedenktafel der Pfarrkirche Reichenau für jene Opfer versammelt, die damals außerhalb der Kriegshandlungen ums Leben kamen. Johann Braun, Josef Weninger und Johann Wallner, die drei NS-Haupttäter, wurden im Mai 1948 hingerichtet. Viele Helfershelfer, die in kalter Feindseligkeit das Morden und Hetzen mitgemacht hatten, kamen mit glimpflichen Strafen davon.
Mit „Die letzten Tage“ errichtet der Wiener Schriftsteller Martin Prinz, 52, einen Roman als Denkmal für die Opfer der Mordserie. „Die letzten Tage“ ist ein mit den Mitteln strikter Dokumentation und ausschließlich mit tatsächlichen Namen und Biografien arrangierter Roman, der fast ausschließlich im Konjunktiv erzählt ist: Er hätte niemals ein Standgericht errichtet. Er wäre sich keinerlei strafbarer Handlung bewusst. Er habe es als seine Pflicht angesehen, gegen Menschen, die sich gegen den Staat und das Tausendjährige Reich vergangen hätten, als Saboteure oder Fahnenflüchtige das Todesurteil zu verhängen.
Am 15. April wurde der 16-jährige Flaksoldat Roman Kneissl aus Pottschach auf Befehl des Drogisten und HJ-Führers Johann Wallner exekutiert, dessen eigenes Todesurteil nach seinem Prozess vor dem Volksgericht am 15. Mai 1948 vollstreckt wurde.
„Er habe dir dein Urteil verlesen, berichtete Wallner, und dich nach deinem letzten Wunsch gefragt“, schreibt Prinz in „Die letzten Tage“: „Da hättest du gleich wieder zu weinen begonnen, seist ihm um den Hals gefallen und hättest dich an ihn geklammert. Du hättest wahrscheinlich gewusst, dass nicht geschossen werden könne, solange du bei ihm stündest.“ Und weiter: „Dein Leben zu retten sei jedoch nicht in seiner Macht gestanden. Das sei allein an den Vorgesetzten (…) gelegen. Wobei er, Wallner, die Nachfrage, ob die Todesstrafe für ein halbes Kind wie dich wirklich die einzige Möglichkeit gewesen wäre, ohne Einschränkung bejahte.“
Mordermittlung als Roman
Man darf sich diese Mordermittlung als Roman wie eine Vermessung der Infamie und Doppelzüngigkeit vorstellen, jenseits jedweder billigen Psychologie: Es gibt Einbahnen, Gabelungen, Schleichwege, Fluchtrouten, unbekanntes Terrain, klandestine Treffpunkte. Nicht selten lassen die Angeklagten vor Gericht die Ermittlungen in die Leere laufen. Man schwärzt einander an, schiebt jede Schuld von sich, erzählt Lügenmärchen. Keiner will es gewesen sein. Die Täter sind die Opfer. Die Opfer werden zum Stillhalten und Stillschweigen verurteilt. Martin Prinz erzählt Österreichs Nachkriegsgeschichte als bestechendes Lehrstück. Verpflichtende Schullektüre ist das Mindeste, was man diesem in jedem Sinne außergewöhnlichen Roman wünschen kann. Prinz bringt die Dinge auf den Punkt, gerade indem er mit dem Konjunktiv als Möglichkeitsform das Verschleiern und Vergessen, das Verschlampen und Verdrängen fast schon schmerzlich in den Mittelpunkt rückt. Das schwarze Loch der Erinnerung.
Als weiterführende Lektüren seien empfohlen: der Band „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ (Kral Verlag) des 2006 verstorbenen Beamten Alois Kermer, der für sein Buch Protokolle und Akten durchforstete und die letzten Zeitzeugen befragte, sowie die online abrufbare Diplomarbeit „Die NS-Morde und -Standgerichtsfälle in Schwarzau im Gebirge und Umgebung im April/Mai 1945 im Lichte des Volksgerichtsverfahrens 1945–1948“ des Wiener Historikers Martin Zellhofer.
Drängende Fragen
„In den letzten Kriegstagen kam es in Reichenau zu einer Schreckensherrschaft der hier stationierten SS-Verbände. 17 Personen, die als Kommunisten oder Sozialdemokraten bekannt oder der Desertion verdächtig waren, wurden von einem Sonderkommando der SS im Keller des ‚Hotel Kaiserhof‘ in der Prein und bei der Schönererkapelle in Reichenau erschossen“, zitiert Zellhofer aus einem 1988 erschienenen Bild- und Textband über die Region – und stellt drängende Fragen: „Wird hier mit Absicht eine Verstrickung der lokalen Machthaber und fanatischer, dort lebender Nationalsozialisten in die Morde verschwiegen?“
Die niederösterreichischen NS-Morde und Standgerichtsfälle führten auf direktem Weg ins tiefe Nachkriegsösterreich. Die Hausfrau Marie Landskron wurde am 26. April 1945 von einem SS-Kommando erschossen. Jahre später rühmte sich ein Holzknecht, damals mit einem anderen gemeinsam eine Frau erschossen und mit Steinen erschlagen zu haben. Prinz schreibt: „Später wollte davon niemand etwas mehr wissen.“