Die Liebe ist eine Himmels- und Höllenmacht: Claire Denis’ neue Gefühls-Achterbahn
Als das britische Filmmagazin „Sight and Sound“ vor einigen Monaten die Ergebnisse seiner weltweiten, nur alle zehn Jahre stattfindenden Umfrage zu den besten und wesentlichsten Filmen aller Zeiten präsentierte, fanden sich in der – überraschend von Chantal Akermans experimentellem Rigorosum „Jeanne Dielman“ (1975) gekrönter – Liste der 250 kanonischen Titel neben absehbaren Werken wie „Vertigo“ (Platz zwei) und „Citizen Kane“ (auf drei), „Der Mann mit der Kamera“ (neun) und „Der Pate“ (Platz 12) gleich zwei Produktionen der Filmemacherin Claire Denis: nicht nur ihr Fremdenlegionsfilm „Beau travail“ (1998), sondern auch der Reisefilm „L’intrus“ (The Intruder“, 2004) – ersterer übrigens nicht unter ferner liefen, sondern auf dem sagenhaften siebenten Platz, noch vor dem legendären Musical „Singin’ in the Rain“, vor Renoirs epochaler „Spielregel“ und John Fords Westernklassiker „The Searchers“, auch vor Ingmar Bergmans Psychodrama „Persona“.
Sinnlich, verrätselt
Tatsächlich ist Denis’ sinnlicher, ungeahnt körperlicher, dabei oft verrätselter Inszenierungsstil einzigartig selbst im so variantenreichen französischen Arthouse-Kino. Ihre Filme, deren feministische Agenda selbstverständlicher Teil der jeweiligen Konstruktion ist, sind zugleich zärtlich und brutal, realistisch und surreal, physisch und durchgeistigt – und sie fordern ihr Publikum heraus, thematisch, erzählerisch, formal. Gleich zwei neue Werke hat Claire Denis 2022 präsentiert, in dem Jahr, in dem sie 76 wurde: zunächst die komplexe Dreiecksromanze „Mit Liebe und Entschlossenheit“, für die sie bei der Berlinale als beste Regisseurin gewürdigt wurde, drei Monate später, in Cannes, das fiebertraumhafte Kolonial-Intrigenspiel „Stars at Noon“, gedreht in Panama und Nicaragua mit der jungen US-Schauspielerin Margaret Qualley im Zentrum. In der zweiten Hälfte ihres achten Lebensjahrzehnts scheint Claire Denis, im Vollbesitz ihrer künstlerischen Möglichkeiten, mit einer Verve und einer ästhetischen Präzision zu arbeiten, die ein paar Dekaden jüngere Kolleginnen und Kollegen kaum je mobilisieren können.
Nun also „Mit Liebe und Entschlossenheit“ – ein wenig knalliger heißt der Film in englischsprachigen Territorien: „Both Sides of the Blade“, nach dem gleichnamigen Song, den Denis-Komplize Stuart Staples mit seiner Band Tindersticks dafür geschrieben und eingespielt hat. Juliette Binoche spielt Sara in dem Film, der gerade österreichweit in den Kinos gestartet ist, eine glücklich verheiratete Frau, die ihren einstigen Liebhaber (Grégoire Colin) nach Jahren wieder trifft, womit ihr Mann Jean (Vincent Lindon) erst umgehen lernen muss. Denis denkt eine aus dem Kino (und dem Leben) wohlbekannte Konstellation subversiv neu: Eine Dreiecksbeziehung, in der Betrug und Eifersucht mitschwingen, wird hier ganz offen gelebt, besprochen und schmerzhaft ausagiert. All diese Begriffe träfen ihren Film jedoch nicht, sagt Denis im profil-Interview, unmittelbar nach der Uraufführung ihres Films in Berlin. „Saras Liebe ist so stark, dass sie diese testen möchte. Wie viel bedeutet mir der Mann von damals?“ Sie hasse das Motiv des Ehebruchs in Dreiecksbeziehungen, gesteht die Regisseurin. Ihr gehe es um etwas ganz anderes: um eine Liebe nämlich, die außer Zweifel steht – „und plötzlich gibt es eine Erregung, eine Attraktion, und Sara beschließt, dieser Anziehung nachzugehen.“
Nur eine Minute Freiheit
In Claire Denis’ Kosmos sind Menschen grundsätzlich ambivalent. Verzweiflung und Durchtriebenheit gehen Hand in Hand. „Sara betrügt, ohne zu betrügen! Sie will nur eine Minute lang frei sein, denn ihre Liebe zu Jean ist ohnehin unerschütterlich. Sara steht nicht zwischen zwei Männern, sie lebt mit Jean, wie sie mehrfach betont. Aber es passiert etwas, das ihre Gefühle aufstört. Sie will ihn nicht betrügen, da bin ich sicher. Ich vertraue ihr! Aber Jean reagiert in aller Härte: Er will sie dazu zwingen, sich zu entscheiden.“
„Mit Liebe und Entschlossenheit“ ist das Gegenstück zu – aber eng verwandt mit – Denis’ „Meine schöne innere Sonne“ von 2017. Während dort die Abwesenheit der Liebe semi-komödiantisch abgehandelt wurde, ist in diesem sehr viel ernsteren Film davon fast zu viel vorhanden. Hauptdarstellerin in beiden Filmen: Juliette Binoche.
„Ich arbeite blind“
Eine These: Claire Denis pendelt zwischen rätselhafteren, assoziativeren Arbeiten wie „High Life“ (2018) und eher zugänglichen wie diesem neuen. Sie stimmt nicht rückhaltlos zu. „Ich arbeite eigentlich blind, ich weiß nicht genau, was ich tue. Ich bearbeite, was mich emotional anzieht. Und vertraue diesen Emotionen kritiklos. Ich lege es nie darauf an, enigmatisch zu sein." Ihr sei gar nicht bewusst, dass Filme wie „Beau travail“ abstrakter erscheinen als andere. Das einzige Konzept zu „Beau travail“ sei der Mangel an Geld gewesen, konstatiert sie trocken. „Nach Djibouti zu reisen mit lediglich 15 Soldaten, die da eine Armee der Fremdenlegion darstellen sollten, das war schon ein hartes Konzept. Aber ich tat, was ich konnte.“
Ihr Ensemble ist die Grundbedingung ihres Tuns. „Ich hätte ,Beau travail' nicht ohne Denis Lavant, ohne Grégoire Colin und Michel Subor machen können. Für mich ist das unabdingbar: Ich muss für die Menschen arbeiten, die ich bewundere und denen ich vertraue.“
Man müsse im Kino nicht immer restlos alles verstehen. „Ich verstehe mich ja manchmal auch selbst nicht, fühle mich fragil in meinen Entscheidungen. Filmemachen macht einen labil und empfindlich. Aber dieses Gefühl der Unsicherheit ist wichtig, daraus kann so vieles entstehen. Denn mit Leidenschaft, Respekt und Vertrauen kann man der Unsicherheit begegnen.“
Zurück zu Tschechow
Unlängst habe sie Tschechows „Kirschgarten“ im Theater wiedergesehen. Sie war fasziniert. „Er ist der Meister der Ambivalenz in allem: Bei ihm sind nicht nur die Menschen, sondern auch all ihre Transaktionen vieldeutig – Geld, Macht, Vertrauen.“ Als sie 15 oder 16 Jahre alt war, habe sie „Onkel Wanja“ gesehen, „ich war noch im Lycee. Ganz am Ende jenes Dramas heißt es: ,Was soll man schon tun – man muss leben! Und wir werden leben.’ Ich wohnte damals in einem Vorort, fuhr mit dem Zug und dachte über diesen Satz nach. Das ist das Leben: Man muss es akzeptieren, ob es gut ist oder schlecht. Das ängstigte und erleuchtete mich.“ In der Simplizität des Ausdrucks liegt die allerhöchste Komplexität, in der Verstörung die Grundlage des Weltverständnisses – bei Anton Tschechow ebenso wie bei Claire Denis.