Kulturtipp

Die Sprache der Täter: "De Facto", eine filmische Gewaltanalyse

Der Versuch, das Böse zu begreifen: Stefan Grissemann empfiehlt „De Facto“, Selma Doboracs kompromisslose Untersuchung von Barbarei und Rhetorik.

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Zwei Männer sitzen in einem Raum, in einem zur Natur hin offenen Haus, einander gegenüber, an einem polierten schwarzen Tisch, in dem sie sich spiegeln; sie erscheinen aber auch weit voneinander getrennt, von Kamera und Montage separiert. Die Schauspieler Christoph Bach und Cornelius Obonya erzählen, in hoher Sprechgeschwindigkeit und im langsam verdämmernden Licht des Tages, in je drei langen Monologen abwechselnd und ungerührt Gewaltgeschichten. Sie stellen dabei niemanden vor oder dar, sind eher Archetypen als Filmfiguren. Ihre Worte erscheinen ungreifbar, des jeweiligen historischen Kontexts enthoben, in vielen Details sind sie jedoch höchst – und fast zu – konkret: abstract oral history. 

Als „De Facto“ im Februar 2023 bei den Filmfestspielen in Berlin erstmals gezeigt wurde, erregte das spröde Werk viel Aufsehen. nun ist es in ausgewählten österreichischen Kinos (vor allem im Wiener Metro, im Linzer Moviemento und im Innsbrucker Leo-Kino) für kurze Zeit nur zu sehen. Die Regisseurin Selma Doborac, geboren in Bosnien, war 1993, als Elfjährige, vor dem Krieg nach Österreich geflohen, wo sie bis heute arbeitet. Für ihr zweites abendfüllendes Werk hat sie Texte collagiert, die „das Böse“, die unauslotbare Tiefe der menschlichen Abgründe zu veranschaulichen versuchen: Es sind Geständnisse, traumatische Erinnerungen, Gerichtsprotokolle und Zeugenaussagen, zu Tätermonologen verdichtet.

Die Stoßrichtung dieses Films ist nicht historisch, sondern dezidiert gegenwärtig. Es herrschen ein gespenstischer Mangel an Empathie und die Seelenruhe der Faktentreuen. Man schwafelt von „Ethos“ und Vernunft, von „Naturgewalt“, Disziplin und Sauberkeit, strapaziert die darwinistische Logik. Eine untergründige Larmoyanz – man habe doch nur Befehle ausgeführt, Unausweichliches getan, selbst gelitten, sei auch Opfer gewesen – begleitet diese Berichte von Genoziden, von der Organisation der Vernichtung. von Barbarei und Opportunismus, von Massenexekutionen, Folter und sexueller Gewalt.

Man denkt an die inszenierten Tätermonologe in Filmen Romuald Karmakars („Das Himmler-Projekt“, „Hamburger Lektionen“) und erkennt in diesem Film eine stark dokumentarische Grundierung: das Rauschen des Windes in den Blättern der hinter den Akteuren sichtbaren Bäume; die in den Raum dringenden Sonnenstrahlen; das Zwitschern der Vögel; das Läuten einer nahen Kirchenglocke, fallweises undefinierbares Dröhnen.

Genau sieben Schnitte setzt die Regisseurin – in 130 Minuten filmischer Laufzeit. Und sie gewährt am Ende keine Quellenangaben: Das Fehlen der historischen Zusammenhänge des geschilderten Grauens produziert etwas Allgemeineres, eine nihilistische Philosophie von der nur allzu menschlichen Gewaltlust. Den riskanten Schritt, ihre textlichen Quellen (die zum Nationalsozialismus, zu den Völkermorden in Ruanda und Vietnam, zur Terrorismushistorie gehören dürften) am Ende nicht offenzulegen, verteidigt Doborac mit dem Argument, es wäre zu leicht, das Gehörte abzuhaken und wieder loszuwerden, wenn man wüsste, welche Dokumente sie benutzt habe.

„De facto“ unternimmt den Versuch zu verstehen, was an Sadismus de facto in der Welt war (und ist). Dieser Film ist karg, fordernd, auch überfordernd – so unangenehm zu hören und zu sehen, wie er angesichts seines Themas sein muss.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.