Die Umsponnene: Alfred Polgars Marlene-Dietrich-Hommage
Marlene ist ein melodischer, anmutiger Name. Er passt gut zu Erscheinung, Art und Persönlichkeit der Frau, die ihn berühmt gemacht hat. Seinem Klang verknüpfen sich heute so bestimmte Vorstellungen und Bilder, dass ihn zu nennen, ohne jene heraufzubeschwören, kaum möglich scheint. Das ist der Ruhm! Zwischen einem Namen (sei es nun der richtige oder ein erfundener) und dem, der sich ihn „gemacht“ hat, stellt sich ganz natürlich eine Art Beziehung her wie zwischen Münze und Prägung: Im Fall Dietrich ist wunderlicherweise der Vorname Bild-Träger der Person, die ihn führt. Die Marlene, könnte man sagen, wurde viel berühmter und populärer als die Dietrich. „Marlenesque“ heißen in Film-Amerika und den umliegenden Erdteilen die Eigenheiten (oft kopiert, nie erreicht) der Diva, und wenn die Zeitungen von und zu ihr per „Marlene“ sprechen, ist das nicht nur Ausdruck jener unablehnbaren Vertraulichkeit, die sich Journalisten den Opfern ihres Interesses gegenüber herauszunehmen pflegen.
„Marlene“: Da ist die Linse sofort richtig eingestellt, und das Objekt, mit vielen leicht erinnerten Details, klar ins Blickfeld gerückt. Wer an Vorbestimmung glaubt und dass auch im sogenannten Spiel des Zufalls verborgener Sinn stecke, wird schon im Taufnamen der Dietrich eine charakteristische Linie ihres filmischen Schaffens, eine Schicksalslinie geradezu, vorgezeichnet sehen. Marlene, das ist in drei Silben kontrahiert: Maria Magdalena, der Name der biblischen Sünderin, der viel vergeben werden darf, weil sie viel geliebt hat. Ob der frauliche Wandel der Künstlerin ihr solchen marlenesken Anspruch auf Viel-Vergebung sichert, weiß ich nicht. Ihre schönsten, stärksten, persönlichsten, das Eigentliche der Gestalterin am reinsten widerstrahlenden Gestalten sind aber gewiss die unterm Magdalenenstern geborenen, unterm gefährlich flackernden Stern jener Magdalena, die noch von den sieben Dämonen in ihrer Brust gehetzt wird: Frauen also, denen die Liebe Atemluft ist, Entsagung Sünde wider die Natur, Untreue ein Gebot der Treue, die sie dem eigenen Selbst halten. Etwa die im Irrgarten der Liebe taumelnde „spanische Tänzerin“; oder „die fesche Lola“, von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, Verderberin im Dienst einer höheren Gerechtigkeit, ein gefallener, zur Unterscheidung von seinen weißen, reinen Schwestern: blauer Engel. Aber ein Engel quand même.
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Dass ein Gesicht wie das ihre, nun gar, da dessen Trägerin einen oft und mit vieler Erwartung genannten Namen führt, von den Menschenfischern des Films nicht übersehen wird, ist selbstverständlich. Marlene filmt. Sie filmt die elegante Verführerin, deren Lieblingsspaziergang der über Leichen ist, den Vampir, abgekürzt: Vamp, auf schwellende Kissen hingeschlängelt à la serpent, der Gentlemen das Blut oder zumindest das Geld aussaugt (was in den meisten Fällen das Gleiche ist), kurz die so unwiderstehliche wie kalte und böse Frau, bei deren Anblick das Männerherz an das Frackhemd klopft wie das Schicksal an die Pforte, und selbst Helden das erotische Gruseln lernen. Der Film hat (es war kein Kunststück) die eine Kraftlinie ihrer Eigenart: das Verschlossene, Rätselvolle, Dunkel-Gefährliche entdeckt und nötigt Marlene, sich als Virtuosin im Spiel auf dieser einen Saite zu spezialisieren. So wird sie auch vom breiten Kinopublikum, das wissen will, was es zu erwarten hat, auf den Vamp-Typ festgelegt, und in den seltenen Fällen, wo sie nicht als schönes Ungeheuer, das seinen mörderischen sex appeal spielen lässt, auf der Bildfläche erscheint, sind die Leute enttäuscht und pfeifen.
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Anziehende Wirkung des Nebenmenschen, die man nicht definieren kann, sieht man als sex appeal an. Er weckt Unruhe, Sympathie, Neugier; und auch, kann sein, einen oder anderen Dämon aus dem Schlaf. Er bringt in Stimmung – das Wort nach seinem musikalischen wie gefühlsmäßigen Sinn verstanden. Er ist kein Vorrecht des Menschen. Auch im Unbelebten, auch im Unbeseelten kann er sich offenbaren. Eine Landschaft kann sex appeal haben, ein Kunstwerk, ein Sommerabend, das Geräusch des Meeres, der Gedanke an den Tod, eine Handschrift, die Stille, die Tiefe. Die Filmschauspielerin Marlene Dietrich ist dieser geheimnisvollen Anziehungskraft in hohem Maße teilhaftig. Sie wirbt ohne Spur werbender Bemühung, lockt und verlockt ohne Absicht oder Wunsch, so zu tun. Auf dem Erregenden, das von ihr ausgeht, ruht der Zauber der Unwillkürlichkeit. „Es liegt in der Luft“ (wie die Revue hieß, in der die Dietrich, damals noch nicht filmbekannt, entzückte), es liegt in der Luft um sie ein Irritierendes, das, so deutlich zu spüren wie leider nur undeutlich zu erklären, vielleicht auch Widerstand, Ablehnung oder Ähnliches aufkommen lassen mag, aber bestimmt nie Gleichgültigkeit. Im Dreiklang: Erscheinung, Bewegung, Stimme (im Fall Dietrich ein Moll-Dreiklang) schwingen Obertöne mit, die das Nervensystem so stark wie angenehm erregen. Sex appeal. Er bringt unser Blut ins Träumen.
In der guten alten Zeit nach der Inflation und vor der großen Krise hatten die mitteleuropäischen Psychoanalytiker viel zu tun. Die Atempausen, die ihnen der Andrang von Klienten ließ, mussten sie nützen, um sich über die Spaltungen und Sektenbildungen in ihrer Wissenschaft halbwegs auf dem Laufenden zu halten. Und so kamen die Beklagenswerten nie ins Kino. Aber als „Der blaue Engel“ über die Leinwände der zivilisierten Welt schwebte, mussten sie sich Zeit nehmen für einen Kinobesuch, weil ihnen anders ein wichtiger Chiffren-Schlüssel, die Seelenrätsel ihrer Patienten zu enträtseln, gefehlt hätte: So häufig nämlich spukten in den Wach- und Traum-Beichten, die sie zu hören bekamen, Mienen, Gebärden, Tonfall der „feschen Lola“.
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Marlene liebt ein zurückgezogenes, stilles Leben im engsten Kreise. Natürlich ist Luxus nichts, woran sie litte; aber Überfluss zu entbehren bedeutet ihr keine Entbehrung. Nun gilt ja gewiss, dass die bescheidene Lebensform für den, der zu ihr nicht genötigt ist, einen anderen Akzent hat als für den, der sich in sie fügen muss; den kleinen Verhältnissen fehlt das Bittere, wenn die großen nur beurlaubt sind und jederzeit einrückend gemacht werden können. Marlene Dietrich hat vermutlich – so weit geht ihr Wunsch nach Originalität kaum – keine Sehnsucht nach proletarischer Existenz, aber ihre Träume von schönem Leben sind solche, zu deren Erfüllung Reichtum weder notwendig noch imstande wäre. Sie ist ein einfacher, lieber, warmherziger, neidloser, unverlogener Mensch, besessen von dem chronischen Willen, gut zu sein und Gutes zu tun.
Böses ist noch kaum irgendwem von ihr widerfahren, es sei denn durch die beleidigende Tatsache ihrer ungewöhnlichen Schönheit und Begabung. Solche Bevorzugung von Gnaden der Natur hat ja sicher etwas sehr Aufreizendes für die Vernachlässigten, und wenn gar noch gewaltigster Erfolg sich hinzugesellt und mit ihm die Fülle der irdischen Güter, wird der Ärger unerträglich. Um von ihm loszukommen, gibt es zwei Flucht-Möglichkeiten: entweder Flucht in die Liebe zu der Person, die den Ärger erregt; oder Flucht in die Bosheit, in die üble Nachrede. Von beiden, von der Schwärmerei wie von der Médisance, erhält die Dietrich Tag um Tag kräftige Proben. Doch das sind Nebenstimmen des Ruhms, die seiner Melodie nichts von ihrem starken Zauber nehmen. Marlene unterliegt ihm gern. Sie freut sich der Popularität, des warmen Windes von Sympathie und Neugier, der um ihre Person, wo diese dreidimensional sichtbar wird, sich erhebt und die Zettel der Autogrammsüchtigen herweht; ein oft lästiger Wind, gewiss, aber Marlene heuchelt nicht, dass das Unbehagen ob solcher Belästigung durch das Behagen, Gegenstand so leidenschaftlichen Interesses zu sein, reichlich kompensiert wird. Ich kenne einen großen, im Dritten Reich zu höchsten Ehren, Titeln und Preisen gekommenen Kollegen Marlenes, einen Seufzer und Stöhner über die stürmische Zuneigung, die ihn, wo immer er sich blicken lasse, umdränge. Aber als am Bahnhof der großen Stadt, wo er, zum Seufzen und Stöhnen entschlossen, ankam, nur eine schüttere Enthusiasten-Menge seine Berühmtheit, assai moderato, umtobte, legte er sich, krank im Herzen, zu Bett und blieb mit der Welt zerfallen, bis ein paar reklameschwere Zeitungsnotizen ihn wieder mit ihr versöhnten.
„Genannt in Lob und Tadel bin ich heute … und dass ich da bin, wissen alle Leute“, dichtete, keineswegs darüber verstimmt, Michelangelo (der in Hollywood vielleicht als Extra für den Typ: charaktervolle Hässlichkeit Verwendung gefunden hätte). Marlene wird nie leugnen, dass solches Von-ihr-Wissen aller Leute, auch wenn es ihr erschwert, unbehelligt im Salzburger Café Bazar zu sitzen, etwas Nettes ist. Sie mimt nicht die vom Ruhm Gelangweilte, von ihrer Popularität Erdrückte. Dennoch: Zu ihrer rechten Leichtigkeit und Heiterkeit blüht sie auf in der freien Atemluft der mit Wenigen geteilten Einsamkeit, in der Geborgenheit des familiären Drinnen, wo die Rolle, die sie draußen spielt, gar keine Rolle spielt. Im Sommer 1937 bewohnte Marlene mit Mann und Freundin ein entlegenes Bauerngehöft am Wolfgangsee, einen alten Kasten ohne Spur von Villa, mit einer Wiese dabei, auf der wuchs, was wachsen wollte, das Ganze rundherum fugenlos mit Brettern verschlagen, die, obschon sich das von der Planke einer großen Schauspielerin beziehungsvoll sagen ließe, nicht die Welt bedeuteten, sondern die Abgeschlossenheit von dieser. Die Einrichtung im Innern war so geblieben, wie die bäurischen Besitzer, Ureinwohner von St. Gilgen, sie gewollt hatten. Nicht der kleinste echte Brueghel hing an den vom Ofenruß geschwärzten Wänden, nicht einmal ein Segantini. Kurz, von jener veredelten Rustikalität, die den Bauernstuben der Millionäre eigentümlich ist, hatte die Sommerwohnung Marlenens nichts. Gäste kamen, das ließ sich nicht vermeiden; Gäste gingen, und das waren schöne Augenblicke.
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In dem St. Gilgener Bauernhaus, allein und abgetrennt von den sinnfälligen Freuden der Geltung und Berühmtheit, schien Marlenes Stimmung jenen Grad in der Skala der Empfindungen erreicht zu haben, der, wenn es ihn überhaupt gäbe, dort als „Zufriedenheit“ angemerkt wäre. Störung dieses unwahrscheinlichen Zustands verursachte die Behelligung durch ein sogenanntes Interview. Dem Zweck zuliebe, dem es dienen sollte, unterzog sich Frau Dietrich der langweiligen Prozedur.
In der guten Stube zu St. Gilgen begann die Befragung, im Salon eines Großstadthotels setzte sie sich bald hernach fort. Dort wehte eine ganz andere, von nervösen Spannungen durchsetzte Luft. Es roch nach Blumen, Zeitmangel, Tee, Parfum und vornehmer Dame. In Vasen, deren viele da waren, blühten frische Zeichen der Huldigung. Marlene, sanft, erkältet und auf manches gefasst, trug die Miene einer beschäftigten Dulderin. Sie wurde gebeten, sich später, in Hollywood, einiger versprochener Daten und Bilder zu erinnern. Aus Höflichkeit machte sie Notizen, deren Hieroglyphik schon ihre Bestimmung, nicht entziffert werden zu können, verriet. Hier, im Zimmer des Großstadthotels, fehlte das Telefon nicht. Während der seltenen Pausen, die es einschaltete, fand das Interview statt. Die Metropolen fragten an, offerierten, wollten wissen, private Verehrung drängte, verehren zu dürfen. Marlene schien wie die Zentralfigur eines Netzes, aber keineswegs Spinne, sondern Umsponnene. Pakete kamen, noch Pakete. Bücher wurden abgegeben, die sich heiß anfühlten zufolge der glühenden Widmungen in ihnen. Nein, die gnädige Frau hat jetzt keine Zeit. Nein, sie ist nicht zu Hause. Nein, das ist ganz ungewiss. Es war alles ungefähr so, wie der kundige petit Maurice sich das Leben der Diva denkt, so von überallher bewegt, voll qualifizierter Unruhe, umrauscht von Antrag, Bitte, Forderung, von den Genien des Ruhms umgaukelt und von seinen Erinnyen gehetzt.
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Zum Abschluss noch eine Frage, liebe Marlene Dietrich: Was für schlechte Eigenschaften haben Sie? Marlene, sanft, erkältet und auf manches gefasst, überlegt ein Weilchen, dann sagt sie schlicht: „Keine.“