Der naive Messias: „Diego Maradona“ im Kino
Ruhm und Selbstzerstörung sind die großen Themen des britischen Regisseurs und Oscar-Preisträgers Asif Kapadia. Die gewaltige Fallhöhe, die sich aus den steilen Aufstiegen und jähen Popularitätsschüben ergibt, von denen seine Filme berichten, bildet die Grundlage ihrer moralischen Zurichtung – und ihres stets auch ein wenig unmoralischen Sensationalismus. Seine Dokumentarfilme konstruiert Kapadia akribisch aus Archivmaterialien, unveröffentlichten Privataufnahmen und Home-Movies. Er destilliert dabei Erzählungen, die regelrechte Bilder- und Bewusstseinsströme sind, nicht pädagogisiert durch erklärende Filmemacherkommentare, nicht unterbrochen und verlangsamt durch Interviewszenen. Man sieht und hört, wie sehr es ihm darum geht, immersiv zu arbeiten, sein Publikum abtauchen zu lassen in eine über Bild- und Tondokumente verbriefte Realität. Die Welt um uns ist für Kapadia bisweilen stranger than fiction, irrer als die meisten in Drehbüchern und Bestsellerromanen mobilisierten Fantasien.
Vielstimmiger Chor aus dem Off
Es ist daher nicht sehr überraschend, dass der größere Teil jenes Schaffens, das der hauptsächlich für seine dokumentarischen Werke bekannte Kapadia seit den 1990er-Jahren vorgelegt hat, spielfilmischer Natur ist. Seine abendfüllenden Dokumentationen („Senna“, 2010; „Amy“, 2015“) weisen vielleicht auch deshalb eine stark erhöhte fiktionalisierende Wirkung auf. Kapadia erzeugt mit seinen Bilderfluten einen narrativen Sog, der mit zwischengeschalteten talking heads nie zu haben wäre.
Nach den früh verstorbenen Idolen, denen er sich in seinen ersten beiden Filmporträts widmete – dem brasilianischen Formel-1-Champion Ayrton Senna und der englischen Popkünstlerin Amy Winehouse –, führt Kapadia nun die Bereiche Spitzensport und Drogensucht zu einem dritten seiner universellen Trauerspiele zusammen. Der argentinische Fußballtitan Diego Maradona ist der erste noch lebende Protagonist in der dokumentarischen Arbeit des Regisseurs, und tatsächlich mischt sich auch der Sportler selbst, aus historischer Distanz auf sein einigermaßen verpfuschtes Leben zurückblickend, in den vielstimmigen Chor von Stimmen aus dem Off – allerdings erstaunlich selten, als hätte der Mann seinem eigenen Filmporträt kaum Wissenswertes hinzuzufügen, als wäre es nur eine lästige Pflicht, auch den gegenwärtigen Diego Maradona am Rande zu Wort kommen zu lassen. Breiter zitiert werden neben seiner Ex-Frau auch Maradonas damaliger persönlicher Trainer, diverse Sportjournalisten und Teamkollegen.
Diego Maradona, Arbeiterkind aus einer Slumsiedlung vor Buenos Aires, wird im Neapel der 1980er-Jahre zwischen Leistungsbesessenheit und Party-Wahnsinn aufgerieben. Kapadia zeigt ihn als bauernschlauen Kämpfer, der keineswegs über eine klassisch-athletische Physis verfügt. Doch er schlägt auch aus seinen 165 Zentimetern Körpergröße noch den Vorteil einer unschlagbar quirligen Dribblingtechnik. 500 Stunden unveröffentlichtes privates Material, vor allem klingende Bilder aus dem Alltag in Maradonas neapolitanischer Zeit, Bruchstücke einer nie realisierten Doku, liegen der Auswahl zugrunde, die Kapadia zu treffen hatte – zusätzlich zu den Abertausenden Stunden an Maradona-Dokumenten, die in den Archiven lagern. Daraus puzzelt der Filmemacher ein modernes Trauerspiel auf die Leinwand, in dem jedes Bild und jedes Wort, zum Sound der 1980er-Jahre in oft modisch patinierter Videoästhetik gereicht, den exakt richtigen Platz zu haben scheinen.
Kapadia jongliert das berufliche und das private Leben seines Helden souverän: Maradona setzt ein uneheliches Kind in die Welt, leugnet und verdrängt es, um seine Familie nicht zu gefährden, pflegt zudem naiverweise beste Kontakte zur Camorra und lässt sich auf Kokain und Prostitution so selbstverständlich ein, als gehörte dies untrennbar zu einer Fußballerkarriere. Mit einem Dopingskandal und einer Bewährungsstrafe Anfang der 1990er-Jahre endet Maradonas Laufbahn unsanft. Der tiefe Sturz vom Erlöser und gottgleichen Helden zu einer Hassfigur, der man in den Zeitungen sogar Ähnlichkeiten zu Luzifer nachsagt, wird Wirklichkeit. „Diego Maradona“ ist auch eine Mediengeschichte.
Eines der zentralen Argumente all jener, die in diesem Film den schwierigen Charakter des Fußballers kommentieren und beleuchten, betrifft dessen fast schon schizophrene Anlage: Man sei entweder mit dem liebenswerten, nahbaren Diego konfrontiert gewesen, geben Zeitzeugen hier zu Protokoll – oder mit dem weltfernen, selbstherrlichen, sich messianisch gerierenden Maradona. So ist es nur folgerichtig, dass nach „Senna“ und „Amy“ erstmals in Kapadias Werk ein Filmtitel aus Vor- und Nachname komponiert wurde. (Dies ist übrigens nicht der erste Dokumentarfilm über Maradona, sogar Emir Kusturica hat 2006 schon ein Porträt des Fußballers gedreht.)
Tricksen erlaubt
Ein Problem, das diese durchaus faszinierende Erzählung aufweist, liegt in der Tatsache, dass Maradonas Glanz und Elend auf ein paar wenige Jahre verdichtet wird, der Regisseur sich auf die Zeit zwischen 1984 und 1991 konzentriert, die Jahre zwischen dem Wechsel des instabilen Wunderkinds nach Neapel und seiner Verurteilung wegen Drogenbesitzes. Es geht Kapadia fast ausschließlich um den werdenden WM-Sieger und den doppelten Meister in der italienischen Oberliga mit dem SSC Neapel. Die frühe Karriere Maradonas wird im Eiltempo durchmessen, und es gibt kaum spätes Material, nichts von seiner Zeit als Trainer des argentinischen Teams um 2010, nichts über die Gegenwart des heute 58-Jährigen. Auch wenn er ab den frühen 1990er-Jahren nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen sein mag: So löst sich dieser Film allzu kursorisch auf.
Am Ende stehen die Bilder eines weinenden Diego Maradona in einer TV-Talk-show und noch einmal, schwer übergewichtig, auf einem Fußballplatz. Die Tragödie des Fußballers wird mit zu viel Musik orchestriert. Und Kapadias Methode verdient ein gewisses Misstrauen. Denn nicht jede Story-Wendung lässt sich bebildern, nicht für jede Äußerung ein stimmiges visuelles Pendant finden. Aber auch im Kino ist das Tricksen, wie es Maradona selbst jeden Tag seines Lebens praktizierte, erlaubt.