Kino

Direkt ins Delirium: US-Filmstar Emma Stone brilliert in „Poor Things“

Die Schauspielerin Emma Stone, unlängst mit einem Golden Globe ausgezeichnet, gibt in der Horror-Groteske „Poor Things“ ein für Spielwitz und Freiheit kämpfendes Ungeheuer – und stellt sich dabei als Meisterin des kontrollierten Irrsinns vor.

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Bella springt, stolpert, tänzelt und wankt mit weit aufgerissenen Augen durch diesen Film. Ihr Selbstbewusstsein ist ausgeprägt, ihre Wortwahl unverblümt, ihr Satzbau poetisch-wunderlich. Wenn ihr danach ist, schlägt sie Menschen, die ihren Unmut erregen, ohne Vorwarnung ins Gesicht. Denn Bella ist, wie man so sagt, ein Monster.

Man sieht es ihr nicht auf den ersten Blick an, aber im Kopf der jungen Frau sitzt das Gehirn ihres eigenen ungeborenen Kindes. Es wurde ihr von einem irren Experimentalpathologen (Willem Dafoe) eingepflanzt, nachdem er sie bei Nacht und Nebel aus der Themse gefischt und in seinem Labor per Stromschlag wiederbelebt hatte.

Emma Stone wagt sich in der Frankenstein-Variation „Poor Things“ (Österreich-Kinostart: 18.1.), inszeniert von dem griechischen Filmkünstler Yorgos Lanthimos („Dogtooth“, „The Lobster“), als reanimierte Selbstmörderin in die Grenzgebiete von Wahn, Geschmacklosigkeit und Übertreibung. Der Film versteht sich als anarchische Komödie im Gewand einer historischen Fantasie, aber er behandelt sozial Gewichtiges: vor allem die Idee der Auflehnung gegen die Zumutungen eines sich überlegen wähnenden Patriarchats. „Poor Things“ ist eine feministische Ode an den Lebenshunger: Bella, eine Art weiblicher Kaspar Hauser, setzt sich in den Kopf, die Welt kennenzulernen und die eigene Libido auszukosten, eben selbstbestimmt zu existieren.

Die Amerikanerin Emma Stone, 35, lag als Idealbesetzung für diese Rolle, die so viel Kreativität, Courage und Komik erfordert, wohl auf der Hand. Denn ein gewisser Unernst ist der Schauspielerin auch persönlich nicht abzusprechen. Ihr Sarkasmus ist legendär, sie verfügt über einen Humor, den man im Englischen „self-deprecating“ nennt, der also hauptsächlich dazu dient, sich selbst herabzuwürdigen. Wenn ihr in Interviews, während sie von beglückenden Arbeitserlebnissen berichtet, Tränen der Rührung kommen, sagt sie: „I’m such an actor. What is wrong with me?“ Über „Poor Things“, den wohl riskantesten Film, den sie je gedreht hat, meinte sie in einem Interview mit der „New York Times“ im Beisein ihres Regisseurs unlängst ironisch: „Keine große Sache. Wir hatten Spaß an diesem Film, am Ende war er aber auch nur ein Gehaltsscheck.“ Man muss sich dazu Emma Stones heiseres Lachen und dieses expressive, fast comichaft elastische Gesicht vorstellen, um eine Ahnung davon zu kriegen, wie solche Sätze gemeint sein könnten.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.