Dirigent Maxime Pascal: Nur keine Dogmen
So geht vorbildliche Nachwuchsförderung: auszeichnen, ausprobieren, anerkennen. Warum sollte dies auf dem Silbertablett, im grellen Scheinwerferlicht der Salzburger Festspiele nicht möglich sein? 2014 gewann ebendort ein damals 28-jähriger Dirigent namens Maxime Pascal den „Young Conductors Award“. Er, der sich mit seinem eigenen, von ihm und fünf weiteren Pariser Conservatoire-Studenten gegründeten Orchester Le Balcon bereits auf zeitgenössische Musik spezialisiert hatte, dirigierte dort das Gustav Mahler Jugendorchester.
Pascal, geboren 1985 in Nantes, ist leidenschaftlicher Verfechter der Musik des 20. Jahrhunderts, der Neuen Musik, die er zu einer der Grundlagen seiner Kollaborationen machte. 2017 dirigierte er in Salzburg das ORF Radio-Symphonieorchester im Rahmen eines Gérard-Grisey-Schwerpunkts, man intonierte dessen gewaltigen Zyklus „Espaces Acoustiques“ als spektralmusikalische Reise in das Innere einzelner Töne, die einen lebendigen Kosmos heraufbeschwören. 2022 war Pascal gleich zweimal in Salzburg: Mit Le Balcon geriet Wolfgang Rihms packende Kammeroper „Jakob Lenz“ mit Georg Nigl in der Titelrolle zum Triumph im Mozarteum; eindrücklich gelang Pascal auch Arthur Honeggers Oratorium „Jeanne d’Arc au bûcher“ mit dem SWR-Sinfonieorchester.
Er arbeite grundsätzlich nur mit Musik, die er persönlich liebe, erzählt der Künstler im profil-Gespräch entspannt auf der Salzburger Presseterrasse. Und das sei „zum Glück eine Menge“. Es gebe Menschen, denen er sehr vertraue – „und die genau wissen, was ich dirigieren soll“: Festspiele-Chef Markus Hinterhäuser beispielsweise, der ihm erst Honegger und nun den tschechisch-amerikanischen Komponisten Bohuslav Martinů (1890–1959) nahegebracht habe. So kam es, dass Maxime Pascal diesen Sommer in Aix-en-Provence und Salzburg zwei wichtige szenische Premieren ins Auge gefasst hat. In Frankreich war das Brechts und Weills „Dreigroschenoper“ in einer glamourös-flotten Umsetzung durch den Berliner Schaubühnen-Intendanten Thomas Ostermeier, der damit sein Musiktheaterdebüt feierte. Und an der Salzach wird am 13. August Martinůs Fifties-Oper „The Greek Passion“ zur Premiere kommen, inszeniert von Simon Stone.
„Wie ein Rausch“
Erst vor ein paar Wochen gab Pascal in Wien ein Gastspiel: Die umstrittene „Lulu“ von Marlene Monteiro Freitas koordinierte er bei den Wiener Festwochen umsichtig, von einer Art Tennisschiedsrichter-Hochsitz aus. Mit der „Lulu“ war er glücklich („auch wenn es für alle Beteiligten hart war, den eigenen, jeweils richtigen Platz zu finden“), sagt Pascal, dem keine Herausforderung zu groß erscheint. Im Sommer bei diesen beiden Festivals wesentliche Stücke zu dirigieren, das sei „wie ein Rausch“. Denn es gibt klare Zusammenhänge: Auch die „Dreigroschenoper“ sei eine Passion mit metaphysischem Finale, findet Pascal: „Bei Weill spüren wir, wie bei Martinů, die irrationale Angst der Masse. In der ‚Griechischen Passion‘ mischen sich antike Melodien, orthodoxe Metrik, aber auch manches von Olivier Messiaen.“
Martinůs „Passion“ basiert auf dem 1948 erschienenen Roman „Der wiedergekreuzigte Christus“ von Nikos Kazantzakis („Alexis Sorbas“). Nachdem eine geplante Erstfassung am Londoner Royal Opera House abgesagt worden war, wurde eine deutsche Zweitfassung 1961 in Zürich uraufgeführt. Die Erstfassung kam 1999 im Festspielhaus Bregenz auf die Bühne. „Dieses Stück hat eine sehr brutale Handlung“, findet Pascal, „zugleich flirrt die Musik vor mediterraner Leidenschaft. Die nächtlich-poetischen Szenen liegen zwischen Traum und Wirklichkeit.“ Religion und Politik vermischen sich, die „Passion“ endet in Krieg und Katastrophe. „Das ist ganz realistisch, auf der Bühne und in der Musik, aber es hat eben auch etwas Transzendentales, denn der Raum ist in die Komposition miteinbezogen. Eine Chorgruppe verharrt, die andere – eine Gemeinschaft Geflüchteter – bewegt sich, ist stets im Exil, versinnbildlicht mit Märschen, Echos, Verfremdungen.“
Zug ins Irrationale
Dogmen ignoriert Maxime Pascal geflissentlich. 2017 dirigierte er Salvatore Sciarrinos Oper „Te vedo, ti sento, mi perdo“ an der Mailänder Scala, die er später auch an die Staatsoper Berlin brachte. Dort erarbeitete er Werke von Debussy, Morton Feldman und Péter Eötvös, aber eben kürzlich auch Puccinis „Turandot“. Für Pascal ist dies kein Bruch: „Bei Puccini lebt die alte Operntradition noch einmal auf, zugleich bietet er den sehr modernen Zugang des 20. Jahrhunderts – mit seinen Tempi, der Orchestrierung, den Harmonien und auch mit einem Zug ins Irrationale.“ Junge Dirigenten wie er führten Debussy eben „mehr in die Richtung von Schönberg, Mahler und Strawinsky“.
Unterstützt vom Pariser Philharmonie-Chef Olivier Mantei, der ihn einst schon an die Opéra Comique eingeladen hatte, schultert Pascal seit 2018 übrigens ein ganz besonderes Opus: Karlheinz Stockhausens siebenteiligen „Licht“-Zyklus, entstanden zwischen 1977 und 2003. Das in Sachen Aufführungsdauer selbst Wagners „Ring“ spielend hinter sich lassende Werk – es wird rund 29 Stunden in Anspruch nehmen – wurde bislang nie komplett aufgeführt. Maxime Pascale und Le Balcon haben das Projekt 2018 gestartet, nach pandemischen Verzögerungen kommt im Herbst in Paris der fünfte Teil heraus. 2025 will man fertig sein, 2028 sollen alle Teile erstmals zyklisch gezeigt werden. Und wer weiß – womöglich ja auch in Salzburg?