Dokumentarfilm: Aufstieg und Fall der Amy Winehouse
Mitten am Stables Market in Camden, Nordlondon, steht die Bronze-Statue einer Frau mit turmhoher Frisur im Mini-Kleid, eine Kette mit Davidstern-Anhänger um den Hals. Das Metall der Skulptur ist kaum oxidiert, sie steht also noch nicht allzu lange da. Dabei sieht die Frau aus wie eine Figur aus den mittleren 1960er-Jahren. Reduziert auf ihr greifbares Äußeres, ohne das abgeklärte Rollen ihrer grünen Augen und den außergewöhnlichen Klang ihrer Stimme, erscheint diese leblose Amy Winehouse wie ein historisches Modezitat, passend zum nostalgischen Stil der örtlichen Retro-Läden, die nebenan ihre Sortimente an ausladenden Blumenkleidern verkaufen.
Betrachtet man Asif Kapadias neuen Dokumentarfilm „Amy“, eine posthume Würdigung der in Camden früh verstorbenen Musikerin, fällt die ihren Aufstieg zum Superstar und ihren gleichzeitigen körperlichen Verfall begleitende ästhetische Wandlung der Amy Winehouse auf: vom gewöhnlichen Teenager in Trainingshosen und T-Shirt zur tätowierten Inkarnation eines nostalgischen Pin-up-Ideals, ihre von Bleistiftabsätzen erhöhten Beine endlos lang und dünn, ihr wie eine schwarze Krake über den grotesk überschminkten Gesichtszügen thronendes Haargebilde. Dies alles waren freilich nicht nur Äußerlichkeiten, sondern wesentlicher Teil der Essenz eines Phänomens, das sich mit dem nur zwei Alben umfassenden Lebenswerk der Amy Winehouse allein nicht erklären lässt.
Selbstzerstörung als ultimativer Authentizitätsbeweis
Vielmehr waren Winehouse und ihre Musik die perfekte Verkörperung des in den Nullerjahren aufgekommenen, seither zum permanenten Kulturidiom verfestigten Vintage-Booms als logische Reaktion auf die flüchtige, endlose Reproduzierbarkeit des digitalen Zeitalters. Die Ironie ist freilich, dass etwa die Blumenkleider auf dem Camden Market schon längst nicht mehr aus originalen Lagerrestbeständen, sondern aus Sweatshops in Bangladesch und China kommen und dass moderne Audio-Software die Sounds analoger Instrumente und Klangeffekte nachstellt. Amy Winehouse erkannte früh das Unschöne dieses inneren Widerspruchs. Ihre Antwort darauf war ein detailbesessen-anachronistischer Purismus. Gleich zu Beginn von Kapadias Film hört man sie über einen Produzenten herziehen, der ohne ihr Wissen digitale Streicher in einen ihrer Songs gemischt hatte. Auf der Suche nach fassbarer Glaubwürdigkeit in einer Welt der Beliebigkeiten verlangte ihre Vintage-Obsession nach der detailgetreuen Nachempfindung einer scheinbar wahrhaftigeren Vergangenheit mit Echtheitszertifikat und ohne Kompromisse. Die Selbstzerstörung war Winehouses ultimativer Authentizitätsbeweis.
Sie habe „eine echte Jazz-Stimme“ gehabt, meint der alte Crooner Tony Bennett, der im März 2011, nur vier Monate vor ihrem Tod, im Duett mit ihr den Standard „Body and Soul“ aufnahm, in einem Interview für Kapadias Film. Er spricht mit der Erfahrung eines Mannes, der nicht nur Winehouses historische Idole – etwa Sarah Vaughan oder Billie Holiday – noch in voller Blüte erlebte, sondern auch die darauffolgende Durststrecke des Genres nach der Machtübernahme der Rockmusik in den Sixties. Als 1983 geborene Londonerin konnte Winehouse diese Welt nur aus zweiter Hand erkunden. Sicher, sie kam aus einer jazzbegeisterten Familie und war mit den Songs der Swing-Ära aufgewachsen, hatte sich in ihren Schülerinnen-Bands aber zunächst am HipHop versucht (das konnte man ihren Phrasierungen bisweilen auch später noch anhören).
Der Kern des Mythos Amy Winehouse war stets ihr angeblich „rohes Talent“ – ein grob vereinfachendes Narrativ, an dem auch Kapadias andernorts wenig zimperlicher Film bezeichnenderweise nicht rühren will. Tatsächlich schickte nämlich Amys verehrte Großmutter, die Jazz-Sängerin Cynthia Winehouse, ihre Enkelin in die erste einer Reihe privater Gesangs- und Tanzschulen, darunter die renommierte Sylvia Young Theatre School (zu deren Abgängerinnen auch Spice Girl Emma Bunton und die Appleton-Schwestern von All Saints gehören) und die Pop-Kaderschmiede BRITS School in Croydon (wo Adele, Jessie J, Katie Melua studierten). Schon vor Abschluss ihres Verlagsdeals mit EMI Publishing wurde Amy Winehouse jahrelang von der Agentur des Spice-Girls-Managers Simon Fuller betreut. Ehe sie von Island/Universal ihren Plattenvertrag angeboten bekam, hatte sie in einem Job bei der globalen Nachrichtenagentur World Entertainment News Agency die medialen Realitäten des Geschäfts bereits kennengelernt. 2003, als ihr erstes Album „Frank“ erschien, war die gerade 20-Jährige also keineswegs unvorbereitet.
Gegenentwurf zur Instant-Popstars-Welt
Ihr Entschluss, sich als Jazz-Sängerin alter Schule zu präsentieren, war demnach auf paradoxe Weise sowohl Produkt ihrer Ausbildung als auch ein Gegenentwurf zur Welt dressierter Instant-Popstars in ewig lächelnden, streng synchron tanzenden Girl-Bands. Eine bewusste Entscheidung, beseelt allerdings von den Mythen rund um die klassischen weiblichen Ikonen des Jazz, denen Winehouse nicht nur in ihrem Gesangsstil, sondern auch im autodestruktiven Glamour ihrer romantisierten, tatsächlich bloß tragischen Biografien nachzueifern schien: Dinah Washington etwa, die 39-jährig nach sieben stürmischen Ehen an einer Überdosis Barbituraten starb. Oder Billie Holiday, die von so gut wie allen Männern in ihrem Leben missbraucht wurde, schließlich mit einem Mafioso verheiratet war, als sie 44-jährig den Folgen ihres Alkoholismus und ihrer Heroinsucht zum Opfer fiel. In den Texten ihres zweiten und letzten Albums „Back to Black“ dokumentierte Winehouse die Beziehung zu ihrem Ehemann, dem Crack-Junkie Blake Fielder-Civil, schien sich zunehmend an das archaische Muster der leidenden, heillos in einen unwiderstehlichen Filou verschossenen Ehefrau zu fügen.
Ihre Musik hatte sich unter der Aufsicht von Ko-Produzent Mark Ronson indessen in Richtung eines Sixties-Soul/Motown-Sounds entwickelt. Die immer monumentalere Ausmaße annehmende Bienenstockfrisur erinnerte nicht zufällig an Ronnie Spector, das stereotypische „bad girl“ aus dem Stall der Ronettes, das 1972 vor seinem tyrannischen Ehemann und Produzenten Phil Spector geflohen war. In ihrem Hit „Rehab“ verweigerte sich Winehouse ähnlich rebellisch den Zwängen der Entzugsklinik – mit verheerenden Folgen im echten Leben.
"Mein eingekerkerter Blake"
Ihre mit demonstrativ schwerer Zunge vorgetragenen Songs wurden zum Soundtrack der Inszenierung ihrer Existenz als in einer prä-feministischen Parallelwelt angesiedelten Reality Soap, gipfelnd in jenem ultimativen Movie-Moment, als sie 2008 bei der Grammy-Verleihung gemäß der Rolle der treuen Häftlingsbraut melodramatisch ihrem wegen Drogendelikten einsitzenden Mann – „meinem eingekerkerten Blake“ – ihre fünf Trophäen widmete.
„I died a hundred times“, sang Amy Winehouse im Titelsong ihres mit Fortdauern des öffentlichen Verfalls immer erfolgreicher werdenden Albums. Aber nicht nur sie selbst als Autorin, auch ihre Plattenfirma, die Medien oder – wie Kapadias Film nahelegt – ihr Management und ihr profitgieriger Vater, sondern auch das Publikum, das seine Augen nicht von diesem klassischen Drama abwenden wollte, wurden dabei zu Anteilnahme heuchelnden Komplizen.
Als Winehouse in blutigen Ballerinas, verfolgt von Paparazzi, von einem Desaster zum nächsten ihrem frühen Tod entgegenstolperte, hatte sie ihre Selbstinszenierung längst nicht mehr im Griff. Das Verhängnisvolle: Ausgerechnet ihre Suche nach Authentizität endete in einem makabren Klischee.