Dokumentarfilme „Juli“ und „Die guten Jahre“: Chance auf Neues
In Familien wird immer an den falschen Stellen geschwiegen. Barbara Kaufmanns Film „Juli“, entstanden nahezu ohne Budget, aber mit umso mehr Herzblut und Gedankentiefe, kreist um die Leerstellen, die Rätsel und Abgründe, die sich in Familiengeschichten auftun. Das Private weitet sich zum Politischen: Eine feministische Agenda treibt „Juli“ voran; unter den Erzählerinnen, die darin vorkommen, finden sich, neben vielen anderen, die Think-Tank-Chefin Barbara Blaha, die Künstlerin Deborah Sengl und die Grünen-Politikerin Olga Voglauer.
Der Titel steht übrigens nicht für den kommenden Hochsommermonat, sondern für die Frau, um deren Lebenserzählung dieser Film (zunächst) kreist: Die Kärntner Urgroßmutter, die der Autorin und Regisseurin eine Kindheit und späteres Leben prägende Figur war, wird in „Juli“ zum Startpunkt einer Meditation über den Zusammenhang von Verstummen und sozialem Unrecht, dem Frauen einst systematisch ausgesetzt waren. Kaufmann geht weit zurück in die Zeit, skizziert die verhängnisvollen Lebenszusammenhänge, die das Patriarchats Frauen im 19. und 20. Jahrhundert zugemutet hat. Und sie gleicht die historischen Erkenntnisse mit den sehr persönlichen Erfahrungen ihrer (geistes)gegenwärtigen Zeuginnen ab. „Juli“ ist ein Film, der von Liebe und Grausamkeit handelt, auch vom nötigen Bruch mit dem gesellschaftlich verordneten Schweigen.
Der Fotograf Reiner Riedler begibt sich ebenfalls in die kaum ausgeleuchteten Nischen einer Familienhistorie – und in ein Frauenleben. Er begleitet in dem Dokumentarfilm „Die guten Jahre“ seinen besten Freund und Kollegen Michael Appelt, einen 53-Jährigen, in eine ungeahnte Situation: Denn Appelt beschließt, als seine Mutter unter den ersten Zeichen einer Demenzerkrankung zu leiden beginnt, wieder zu ihr zu ziehen, in ihr kleines Haus in Niederösterreich, das sie allein bewohnt, um sie zu unterstützen, zu pflegen, die Mutter-Sohn-Bindung in höherem Alter noch einmal neu und anders zu gestalten. Appelt befindet sich, wie schrittweise deutlich wird, selbst in einer Lebenskrise, hat eine traumatische Nahtoderfahrung hinter sich und hegt die Sehnsucht nach einem Neubeginn. So stellt er sich, auch gegen das Unverständnis seiner Freunde, der Beziehung zu seiner Mutter, in aller Konsequenz und Zärtlichkeit.
Das Bildermachen liegt Riedler so sehr, dass es fast schwerfällt, diesen Film als das Debüt zu sehen, das er eigentlich darstellt. Tatsächlich ist „Die guten Jahre“ ein Werk von erstaunlicher Stil- und Erzählsicherheit, die Fortführung einer leidenschaftlich ausgeübten Tätigkeit (des Fotografierens) mit anderen Mitteln (den bewegten Bildern). Es berührt, in Demut und Genauigkeit, Grundsätzliches; gedreht an Schauplätzen von ernüchterndem Charme, erzählt dieser Film von existenziellen Wagnissen und einer Selbstöffnung, die erst befremdet und schließlich beeindruckt. Das Schweigen zu brechen, um Veränderung zu ermöglichen: Darum geht es in „Juli" und „Die guten Jahre“ entscheidend.