Kultur

Dorothy Thompson: Die rasende Reporterin, die Hitler traf

Sie gehörte zu den einflussreichsten Frauen Amerikas, zählte Sigmund Freud und Bertolt Brecht zu ihren Bekannten: Die große Journalistin und Exzentrikerin Dorothy Thompson wird wiederentdeckt. „Ich traf Hitler!“, ihr bekanntestes Buch, erscheint jetzt erstmals auf Deutsch.

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Jahre später noch tobte Joseph Goebbels, wann immer er den Namen von Dorothy Thompson hörte. Am 5. April 1942 notierte er in sein Tagebuch: „Dorothee (sic!) Thompson hält eine absolut verrückte Rede gegen Hitler. Es ist beschämend und aufreizend, dass so dumme Frauenzimmer, deren Gehirn nur aus Stroh bestehen kann, das Recht haben, gegen eine geschichtliche Größe wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen.“

In den USA wird Thompson (1893−1961) als große Reporterin und Exzentrikerin verehrt. Sie war die erste international bekannte US-Auslandskorrespondentin, die aus Wien, Budapest und Berlin berichtete – und die erste westliche Journalistin, die im August 1934 vom NS-Regime aus Deutschland ausgewiesen wurde, nachdem sie Adolf Hitler 1932 in einem Porträt verunglimpft hatte.

Die 500-Seiten-Biografie „American Cassandra“ (2012) über Thompson, die der US-Publizist Peter Kurth veröffentlicht hat, wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt, was sich ändern könnte. Das Interesse an der rastlosen Berichterstatterin dürfte durch die Reportage „Ich traf Hitler!“ jedenfalls nicht mehr so schnell abreißen. „Ich traf Hitler!“ ist Thompsons erstes Buch, das Anfang Juni auf Deutsch erscheinen wird.

Man ist, liest man „Ich traf Hitler!“, mittendrin im Jahr 1931. Es tut sich ein Mosaik aus Geschichte und Mentalität auf, das Bild eines Landes, in dem sich der Terror und die Militarisierung des Denkens endgültig festgefressen haben.

„Sieben Jahre habe ich versucht, Adolf Hitler zu treffen.“ So beginnt Thompsons Bericht ihrer Begegnung, der, um 46 Abbildungen und Fotos angereichert, auch die Bildergeschichte von Hitlers Aufstieg erzählt und um den Text „Abschied von Deutschland“ erweitert ist, den Thompson nach ihrer Ausweisung verfasst hatte.

Liebesrausch auf den ersten Blick: Schriftsteller lewis mit Ehefrau Thompson (um 1928)

Hitlers Bedeutungslosigkeit?

Im November oder Dezember 1931 war es so weit. Hitlers Salon im Berliner „Hotel Kaiserhof“. Thompson schreibt: „Ich ging also hin, nicht, um einen kleinen politischen Anführer zu treffen, sondern einen möglichen Diktator, der ‚so sicher an die Macht kommen wird, wie ich hier stehe‘, wie er einem Zeitungsredakteur einige Tage zuvor erklärt hatte.“ Der „Führer“ verspätete sich. Thompson notiert: „Einen Mann, der eine Armee besitzt. Einen Mann, der die Straße terrorisiert. Einen Mann, der ein neues, gefährliches, erwachtes Deutschland vorhersagt. Ich war ein wenig nervös. Ich überlegte, Riechsalz zu nehmen.“ Und weiter: „Keine 50 Sekunden später war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war. Es brauchte nur ungefähr diese Zeit, um die verblüffende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Atem hielt.“

Versagt Thompson hier epochal vor der Geschichte? Ein historisches Fehlurteil? Keineswegs, sagt Oliver Lubrich am Telefon in Bern. Lubrich, 52, ist Literaturwissenschafter und Herausgeber von Thompsons Hitler-Report. „Die entscheidende Pointe ist, wie sie ihre anfängliche Reaktion auf Hitler analysiert. Sie beschreibt just das, was viele von uns im Fall von Donald Trump erlebt haben: Man belächelt diese Populisten – und steht sich dabei selbst in der Erkenntnis des Phänomens im Weg. Indem Thompson notiert, Hitler, diese lächerliche Figur, könne niemals der künftige Diktator Deutschlands sein, nimmt sie diese Geringschätzung und habituelle Distanz zum Ausgangspunkt ihrer Analyse.“ Thompson schreibt: „Er ist formlos, fast gesichtslos, ein Mann, dessen Miene einer Karikatur gleicht, ein Mann, dessen Körperbau knorpelig wirkt, ohne Knochen. Er ist belanglos und redselig, von schlechter Haltung und unsicher. Er ist die Verkörperung des kleinen Mannes.“ Thompson, sagt Lubrich, kläre zuallererst ihr eigenes Verhalten gegenüber Hitler ab, um ihre Reaktion auf dessen „wild gewordene Mittelmäßigkeit, die seinen Erfolg erklärt“, zu verstehen. Sie nimmt sich in ihre Reportage selbst mit hinein, samt ihren Unsicherheiten und Fragen, was am Ende das herangezoomte Bild eines Demagogen ergibt, dem die Massen zujubeln. Ein Kleinbürger, der Traum von Millionen. Ein Alptraum, der alle politischen Konturen und Konstanten zersetzen wird.

Thompson war eine Reporterin, die sich der anrollenden Katastrophe wie eine Forensikerin dem Tatort eines Mordes näherte, mit kantigem Realismus und offenem Blick, ohne erzählerischen Zuckerguss, die eigene Fassungslosigkeit nicht verbergend. Sie war dem Angsteinflößenden und Grotesken der NS-Bewegung unmittelbar ausgesetzt, den Stoßtrupps und Hakenkreuzfahnen, dem wüsten Gebrüll und den Straßenschlägereien. Es ist der finale Akt eines Dramas, in dem Hitler die große Bühne betritt. Es ist in Thompsons Worten ein so absurdes wie ambivalentes Schauspiel. Sie schreibt: „Das Interview gestaltete sich schwierig, denn man kann mit Adolf Hitler kein Gespräch führen. Er redet die ganze Zeit so, als wäre er auf einer Massenveranstaltung. Im persönlichen Umgang ist er schüchtern, fast peinlich berührt. In jeder Frage sucht er nach einem Motiv, zu dem er loslegen kann. Sein Blick fixiert dann eine ferne Zimmerecke; ein hysterischer Unterton schleicht sich in seine Stimme, die er bisweilen fast zu einem Schreien steigert. Er vermittelt den Eindruck eines Mannes in Trance. Er schlägt auf den Tisch.“ Dazu die „linkische Haltung“ und der „lächerliche kleine Bart“. Die Witzfigur als Ersatzmessias.

Thompsons These, sagt Lubrich, laute: „Hitler ist in doppeltem Sinn ein ‚Kleiner Mann‘ – in seiner Unscheinbarkeit als Individuum, aber auch als Stellvertreter und Projektionsfigur für Seinesgleichen. Man darf sich von seiner persönlichen Mittelmäßigkeit nicht täuschen lassen, sondern muss seine Attraktivität für diejenigen ernst nehmen, die sich in ihm wiedererkennen.“

Kolumnen für ein Millionenpublikum

„time magazine“-Cover (juni 1939)

Zeugin des Katastrophenjahrhunderts

Thompson erlebte, was es an europäischer Katastrophengeschichte zu erleben gab. Der rote Faden ihres Lebenslaufs wurde von Politik und Weltgeschichte oft durchschnitten, in ihrem Dasein finden sich die Ideen und Ideologien des 20. Jahrhunderts bizarr gemischt – von der Weimarer Republik über die Schrecken des Nationalsozialismus bis zu Kommunismus und Kaltem Krieg.

Ein Dasein im Schnellvorlauf, ein Arbeitsleben, das der irrlichternden Suche nach immer neuen Geschichten und Themen gewidmet war. Ihr erstes Buch veröffentlichte Thompson nach einer mehrwöchigen Reise durch die Sowjetunion im November und Dezember 1927 unter dem Titel „The New Russia“. Am 26. August 1934 meldete die „New York Times“ auf ihrer Titelseite: „Dorothy Thompson wegen ‚Verunglimpfung‘ Hitlers vom Reich ausgewiesen“.

1936 bot die „New York Herald Tribune“ Thompson eine Kolumne mit dem Titel „On the Record“ an. 22 Jahre lang schrieb sie „On the Record“ dreimal wöchentlich für ein Millionenpublikum. Das „Time Magazine“ hob Thompson in seiner Ausgabe vom 12. Juni 1939 aufs Titelblatt und erklärte sie neben der Gattin des US-Präsidenten zur einflussreichsten Frau Amerikas. Thompson habe gezeigt, schrieb Winston Churchill im Frühling 1941, was eine tapfere Journalistin kraft der Feder erreichen könne.

Dem Publikum musste schließlich niemand erklären, wen Katherine Hepburn 1942 in dem Kinofilm „Die Frau, von der man spricht“ als rasende Reporterin Tess Harding verkörperte.

Mit 26 Jahren ging Thompson nach Europa, um vom irischen Unabhängigkeitskampf und von der zionistischen Bewegung zu berichten. Sie interviewte Leo Trotzki, Kemal Atatürk und Sigmund Freud, traf Adolf Loos, Arnold Schönberg und Oskar Kokoschka, den sie „Koko“ nannte – wie sie ohnehin eine besondere Hierarchie der Prominenz pflegte. Der Dramatiker Carl Zuckmayer erinnerte sich später, wie Thompson, die gut Deutsch sprach, hohe Weimarer Würdenträger mit „Du“ ansprach, deren Hunde aber, die Köpfe der tierischen Begleiter tätschelnd, mit dem förmlichen „Sie“ anredete.

Kein ausländischer Journalist, so ein anderer Zeitzeuge, sei ohne Thompsons Erlaubnis zu Sigmund Freud vorgedrungen, während Letzterer der Journalistin empfahl, in Liebesnöten die Lippenstiftfarbe zu ändern.

1921 bezog Thompson eine Wohnung mit Bad in der Rainergasse 5, Wien-Margareten. An den Wochenenden fuhr sie mit der Straßenbahn ins Grüne, unternahm Ausflüge in den Prater und ins Belvedere. In ihren ersten Berichten über Wien informierte sie das amerikanische Publikum über den „guten, starken Kaffee“ und den „schlechten, sauren Wein“. Sie staunte über die „Schlamperei“ und die Todesverliebtheit der Stadt. Das Durchwandern der Dunkelkorridore des Klischees bleibt in Wien offenbar auch den größten Berichterstatterinnen nicht erspart.

Mit unbekümmerter Heiterkeit schrieb und lebte Thompson jedoch bald ihre eigenen Regeln, beispielsweise an jenem Abend 1926 in der Wiener Staatsoper, als sie das Gemunkel von einem Staatsstreich in Polen aufschnappte. Sie stürzte aus dem Haus am Ring, stopfte einen Koffer voll mit Kleidern, lieh sich 500 Dollar von ihrem Freund Freud und setzte sich in den Zug nach Warschau. Das Gerücht vom Coup d’état erwies sich als wahr. Als der Zug außerhalb der Stadt zum Stehen kam, stapfte Thompson durch Schlammfelder nach Warschau.

Tee mit dem deutschen Außenminister

Gustav Stresemann, der 1923 deutscher Reichskanzler wurde und bis zu seinem Tod 1929 Außenminister war, lud Thompson regelmäßig zum Tee ins Außenministerium. Brecht unterstützte sie 1939 mit Geld und Druck auf das US-Außenministerium, als der Schriftsteller 1939 in die USA emigrierte. Gemeinsam mit dem Wiener Regisseur und Schauspieler Fritz Kortner schrieb sie ein Stück über die Not der Neuankömmlinge. An einem New Yorker Broadway-Theater feierte „Another Sun“ Ende Februar 1940 Premiere. Zu dieser Zeit war Thompson eine von Kameras belauerte Berühmtheit, der zahllose Affären mit Männern und Frauen nachgesagt wurden, die von der tatsächlichen Zahl ihrer Liebesabenteuer offenbar bei Weitem übertroffen wurde. Im Club „21“ sah man sie abwechselnd mit einem New Yorker Immobilienmakler, dem „Paris-Soir“-Auslandskorrespondenten und dem italienischstämmigen Journalisten Max Ascoli dinieren, der 1949 das Magazin „The Reporter“ gründete.

Thompson war talk of the town. Klaus Mann, der in die USA geflohene Sohn Thomas Manns, bemerkte respektvoll befremdet, Thompson habe das Aussehen einer römischen Kaiserin, deren herrischer Charme in den Büsten der dekadenten Zeit zu bewundern sei. Dorothy, so bemerkte ein anderer Beobachter, sei unfähig gewesen, die simpelsten Handlungen ohne dramatische Beifügung zu bewältigen. Ihre Fingernägel habe sie mit der größten Empörung geschnitten.

Being Dorothy Thompson hatte die Journalistin zu ihrem Zweitberuf gemacht. Ihr Privatleben war ein offenes Buch. Etwa jenes Kapitel, in dem sie ihren zweiten Ehemann, den Schriftsteller Sinclair Lewis (1885–1951) und ersten US-amerikanischen Literaturnobelpreisträger, kennenlernte. Thompson hat daraus hübsche Episoden gedrechselt, die nach Anekdoten klingen, aber genauso – großes Reporterinnen-Ehrenwort! – wahr sein könnten.

Lewis lernte Thompson Anfang Juli 1927 im Berliner Außenministerium kennen, beim Tee mit Stresemann. Es war ein Liebesrausch auf den ersten Blick. Beim gemeinsamen Abendessen bettelte Lewis ohne Umschweife um die Ehe. „Warum?“, fragte Thompson. „Weil ich ein schönes Haus in Vermont bauen möchte und Sie der einzige Mensch sind, mit dem ich es teilen will“, entgegnete Lewis. Das sei, beendete Thompson die Unterhaltung, kein ausreichender Grund. Im Jahr darauf wurde dennoch Hochzeit gefeiert. Eine zweite Version der Geschichte geht so: Thompson habe ihr Ja auf Lewis’ überstürzten Heiratsantrag davon abhängig gemacht, dass er sie nach Wien begleite und Berichte über die Unruhen nach dem Justizpalastbrand schreibe.

Schlaksig, knochig, spindeldürr, so sei ihr der Schriftsteller bei ihrem ersten Zusammentreffen vorgekommen, erinnerte sich Thompson später, mit blutunterlaufenen Pupillen und einer Haut, die an den Inhalt von Tomatendosen erinnerte, als habe ihr Zukünftiger eine Schlacht mit Flammenwerfern überlebt. Lewis wurde in der Öffentlichkeit bald als „Mr. Dorothy Thompson“ wahrgenommen. In der Titelheldin seines Romans „Ann Vickers“ (1933) hat Sinclair Lewis seiner Ehefrau ein literarisches Denkmal gesetzt.

Nach zwei Herzinfarkten starb Dorothy Thompson am 30. Jänner 1961 in Lissabon. Sie entschlief, so das „Time Magazine“, ohne jede Reue. Sie sei eine der prägendsten Figur des amerikanischen Journalismus gewesen, bemerkte die „New York Times“ in ihrem Nachruf, eine unermüdliche Arbeiterin und, dies vor allem: große Reporterin.

Hitlers Bedeutungslosigkeit?

Im November oder Dezember 1931 war es so weit. Hitlers Salon im Berliner „Hotel Kaiserhof“. Thompson schreibt: „Ich ging also hin, nicht, um einen kleinen politischen Anführer zu treffen, sondern einen möglichen Diktator, der ‚so sicher an die Macht kommen wird, wie ich hier stehe‘, wie er einem Zeitungsredakteur einige Tage zuvor erklärt hatte.“ Der „Führer“ verspätete sich. Thompson notiert: „Einen Mann, der eine Armee besitzt. Einen Mann, der die Straße terrorisiert. Einen Mann, der ein neues, gefährliches, erwachtes Deutschland vorhersagt. Ich war ein wenig nervös. Ich überlegte, Riechsalz zu nehmen.“ Und weiter: „Keine 50 Sekunden später war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war. Es brauchte nur ungefähr diese Zeit, um die verblüffende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Atem hielt.“

Versagt Thompson hier epochal vor der Geschichte? Ein historisches Fehlurteil? Keineswegs, sagt Oliver Lubrich am Telefon in Bern. Lubrich, 52, ist Literaturwissenschafter und Herausgeber von Thompsons Hitler-Report. „Die entscheidende Pointe ist, wie sie ihre anfängliche Reaktion auf Hitler analysiert. Sie beschreibt just das, was viele von uns im Fall von Donald Trump erlebt haben: Man belächelt diese Populisten – und steht sich dabei selbst in der Erkenntnis des Phänomens im Weg. Indem Thompson notiert, Hitler, diese lächerliche Figur, könne niemals der künftige Diktator Deutschlands sein, nimmt sie diese Geringschätzung und habituelle Distanz zum Ausgangspunkt ihrer Analyse.“ Thompson schreibt: „Er ist formlos, fast gesichtslos, ein Mann, dessen Miene einer Karikatur gleicht, ein Mann, dessen Körperbau knorpelig wirkt, ohne Knochen. Er ist belanglos und redselig, von schlechter Haltung und unsicher. Er ist die Verkörperung des kleinen Mannes.“ Thompson, sagt Lubrich, kläre zuallererst ihr eigenes Verhalten gegenüber Hitler ab, um ihre Reaktion auf dessen „wild gewordene Mittelmäßigkeit, die seinen Erfolg erklärt“, zu verstehen. Sie nimmt sich in ihre Reportage selbst mit hinein, samt ihren Unsicherheiten und Fragen, was am Ende das herangezoomte Bild eines Demagogen ergibt, dem die Massen zujubeln. Ein Kleinbürger, der Traum von Millionen. Ein Alptraum, der alle politischen Konturen und Konstanten zersetzen wird.

Thompson war eine Reporterin, die sich der anrollenden Katastrophe wie eine Forensikerin dem Tatort eines Mordes näherte, mit kantigem Realismus und offenem Blick, ohne erzählerischen Zuckerguss, die eigene Fassungslosigkeit nicht verbergend. Sie war dem Angsteinflößenden und Grotesken der NS-Bewegung unmittelbar ausgesetzt, den Stoßtrupps und Hakenkreuzfahnen, dem wüsten Gebrüll und den Straßenschlägereien. Es ist der finale Akt eines Dramas, in dem Hitler die große Bühne betritt. Es ist in Thompsons Worten ein so absurdes wie ambivalentes Schauspiel. Sie schreibt: „Das Interview gestaltete sich schwierig, denn man kann mit Adolf Hitler kein Gespräch führen. Er redet die ganze Zeit so, als wäre er auf einer Massenveranstaltung. Im persönlichen Umgang ist er schüchtern, fast peinlich berührt. In jeder Frage sucht er nach einem Motiv, zu dem er loslegen kann. Sein Blick fixiert dann eine ferne Zimmerecke; ein hysterischer Unterton schleicht sich in seine Stimme, die er bisweilen fast zu einem Schreien steigert. Er vermittelt den Eindruck eines Mannes in Trance. Er schlägt auf den Tisch.“ Dazu die „linkische Haltung“ und der „lächerliche kleine Bart“. Die Witzfigur als Ersatzmessias.

Thompsons These, sagt Lubrich, laute: „Hitler ist in doppeltem Sinn ein ‚Kleiner Mann‘ – in seiner Unscheinbarkeit als Individuum, aber auch als Stellvertreter und Projektionsfigur für Seinesgleichen. Man darf sich von seiner persönlichen Mittelmäßigkeit nicht täuschen lassen, sondern muss seine Attraktivität für diejenigen ernst nehmen, die sich in ihm wiedererkennen.“

Dorothy Thompson: Ich traf Hitler!

 Der Reportage-Essay von 1932 erstmals vollständig auf Deutsch, mit sämtlichen Original-Abbildungen, hrsg. v. Oliver Lubrich.  Deutsch von Johanna von Koppenfels. Das vergessene Buch.  272 S., EUR 26,–

Zeugin des Katastrophenjahrhunderts

Thompson erlebte, was es an europäischer Katastrophengeschichte zu erleben gab. Der rote Faden ihres Lebenslaufs wurde von Politik und Weltgeschichte oft durchschnitten, in ihrem Dasein finden sich die Ideen und Ideologien des 20. Jahrhunderts bizarr gemischt – von der Weimarer Republik über die Schrecken des Nationalsozialismus bis zu Kommunismus und Kaltem Krieg.

Ein Dasein im Schnellvorlauf, ein Arbeitsleben, das der irrlichternden Suche nach immer neuen Geschichten und Themen gewidmet war. Ihr erstes Buch veröffentlichte Thompson nach einer mehrwöchigen Reise durch die Sowjetunion im November und Dezember 1927 unter dem Titel „The New Russia“. Am 26. August 1934 meldete die „New York Times“ auf ihrer Titelseite: „Dorothy Thompson wegen ‚Verunglimpfung‘ Hitlers vom Reich ausgewiesen“.

1936 bot die „New York Herald Tribune“ Thompson eine Kolumne mit dem Titel „On the Record“ an. 22 Jahre lang schrieb sie „On the Record“ dreimal wöchentlich für ein Millionenpublikum. Das „Time Magazine“ hob Thompson in seiner Ausgabe vom 12. Juni 1939 aufs Titelblatt und erklärte sie neben der Gattin des US-Präsidenten zur einflussreichsten Frau Amerikas. Thompson habe gezeigt, schrieb Winston Churchill im Frühling 1941, was eine tapfere Journalistin kraft der Feder erreichen könne.

Dem Publikum musste schließlich niemand erklären, wen Katherine Hepburn 1942 in dem Kinofilm „Die Frau, von der man spricht“ als rasende Reporterin Tess Harding verkörperte.

Mit 26 Jahren ging Thompson nach Europa, um vom irischen Unabhängigkeitskampf und von der zionistischen Bewegung zu berichten. Sie interviewte Leo Trotzki, Kemal Atatürk und Sigmund Freud, traf Adolf Loos, Arnold Schönberg und Oskar Kokoschka, den sie „Koko“ nannte – wie sie ohnehin eine besondere Hierarchie der Prominenz pflegte. Der Dramatiker Carl Zuckmayer erinnerte sich später, wie Thompson, die gut Deutsch sprach, hohe Weimarer Würdenträger mit „Du“ ansprach, deren Hunde aber, die Köpfe der tierischen Begleiter tätschelnd, mit dem förmlichen „Sie“ anredete.

Kein ausländischer Journalist, so ein anderer Zeitzeuge, sei ohne Thompsons Erlaubnis zu Sigmund Freud vorgedrungen, während Letzterer der Journalistin empfahl, in Liebesnöten die Lippenstiftfarbe zu ändern.

1921 bezog Thompson eine Wohnung mit Bad in der Rainergasse 5, Wien-Margareten. An den Wochenenden fuhr sie mit der Straßenbahn ins Grüne, unternahm Ausflüge in den Prater und ins Belvedere. In ihren ersten Berichten über Wien informierte sie das amerikanische Publikum über den „guten, starken Kaffee“ und den „schlechten, sauren Wein“. Sie staunte über die „Schlamperei“ und die Todesverliebtheit der Stadt. Das Durchwandern der Dunkelkorridore des Klischees bleibt in Wien offenbar auch den größten Berichterstatterinnen nicht erspart.

Mit unbekümmerter Heiterkeit schrieb und lebte Thompson jedoch bald ihre eigenen Regeln, beispielsweise an jenem Abend 1926 in der Wiener Staatsoper, als sie das Gemunkel von einem Staatsstreich in Polen aufschnappte. Sie stürzte aus dem Haus am Ring, stopfte einen Koffer voll mit Kleidern, lieh sich 500 Dollar von ihrem Freund Freud und setzte sich in den Zug nach Warschau. Das Gerücht vom Coup d’état erwies sich als wahr. Als der Zug außerhalb der Stadt zum Stehen kam, stapfte Thompson durch Schlammfelder nach Warschau.

Tee mit dem deutschen Außenminister

Gustav Stresemann, der 1923 deutscher Reichskanzler wurde und bis zu seinem Tod 1929 Außenminister war, lud Thompson regelmäßig zum Tee ins Außenministerium. Brecht unterstützte sie 1939 mit Geld und Druck auf das US-Außenministerium, als der Schriftsteller 1939 in die USA emigrierte. Gemeinsam mit dem Wiener Regisseur und Schauspieler Fritz Kortner schrieb sie ein Stück über die Not der Neuankömmlinge. An einem New Yorker Broadway-Theater feierte „Another Sun“ Ende Februar 1940 Premiere. Zu dieser Zeit war Thompson eine von Kameras belauerte Berühmtheit, der zahllose Affären mit Männern und Frauen nachgesagt wurden, die von der tatsächlichen Zahl ihrer Liebesabenteuer offenbar bei Weitem übertroffen wurde. Im Club „21“ sah man sie abwechselnd mit einem New Yorker Immobilienmakler, dem „Paris-Soir“-Auslandskorrespondenten und dem italienischstämmigen Journalisten Max Ascoli dinieren, der 1949 das Magazin „The Reporter“ gründete.

Thompson war talk of the town. Klaus Mann, der in die USA geflohene Sohn Thomas Manns, bemerkte respektvoll befremdet, Thompson habe das Aussehen einer römischen Kaiserin, deren herrischer Charme in den Büsten der dekadenten Zeit zu bewundern sei. Dorothy, so bemerkte ein anderer Beobachter, sei unfähig gewesen, die simpelsten Handlungen ohne dramatische Beifügung zu bewältigen. Ihre Fingernägel habe sie mit der größten Empörung geschnitten.

Being Dorothy Thompson hatte die Journalistin zu ihrem Zweitberuf gemacht. Ihr Privatleben war ein offenes Buch. Etwa jenes Kapitel, in dem sie ihren zweiten Ehemann, den Schriftsteller Sinclair Lewis (1885–1951) und ersten US-amerikanischen Literaturnobelpreisträger, kennenlernte. Thompson hat daraus hübsche Episoden gedrechselt, die nach Anekdoten klingen, aber genauso – großes Reporterinnen-Ehrenwort! – wahr sein könnten.

Lewis lernte Thompson Anfang Juli 1927 im Berliner Außenministerium kennen, beim Tee mit Stresemann. Es war ein Liebesrausch auf den ersten Blick. Beim gemeinsamen Abendessen bettelte Lewis ohne Umschweife um die Ehe. „Warum?“, fragte Thompson. „Weil ich ein schönes Haus in Vermont bauen möchte und Sie der einzige Mensch sind, mit dem ich es teilen will“, entgegnete Lewis. Das sei, beendete Thompson die Unterhaltung, kein ausreichender Grund. Im Jahr darauf wurde dennoch Hochzeit gefeiert. Eine zweite Version der Geschichte geht so: Thompson habe ihr Ja auf Lewis’ überstürzten Heiratsantrag davon abhängig gemacht, dass er sie nach Wien begleite und Berichte über die Unruhen nach dem Justizpalastbrand schreibe.

Schlaksig, knochig, spindeldürr, so sei ihr der Schriftsteller bei ihrem ersten Zusammentreffen vorgekommen, erinnerte sich Thompson später, mit blutunterlaufenen Pupillen und einer Haut, die an den Inhalt von Tomatendosen erinnerte, als habe ihr Zukünftiger eine Schlacht mit Flammenwerfern überlebt. Lewis wurde in der Öffentlichkeit bald als „Mr. Dorothy Thompson“ wahrgenommen. In der Titelheldin seines Romans „Ann Vickers“ (1933) hat Sinclair Lewis seiner Ehefrau ein literarisches Denkmal gesetzt.

Nach zwei Herzinfarkten starb Dorothy Thompson am 30. Jänner 1961 in Lissabon. Sie entschlief, so das „Time Magazine“, ohne jede Reue. Sie sei eine der prägendsten Figur des amerikanischen Journalismus gewesen, bemerkte die „New York Times“ in ihrem Nachruf, eine unermüdliche Arbeiterin und, dies vor allem: große Reporterin.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.