Edmund de Waal: "Ich hasse Meissen!“
profil: "Der Hase mit den Bernsteinaugen“ hat Sie weltberühmt gemacht. Hat dieser Bestseller Ihren Blick auf die Welt verändert - oder zumindest jenen auf die Kunstwelt? Edmund De Waal: Weltberühmt? Sagen Sie das nicht! Ich bin derselbe Mensch geblieben. Aber es stimmt, ich kann jetzt Ausstellungen machen, die ich vorher nicht bekommen hätte. Zum Beispiel im Kunsthistorischen Museum in Wien, im Oktober. Hätte ich nicht die Geschichte meiner jüdischen Wiener Familie aufgezeichnet, wäre das kaum möglich gewesen. Aber der Erfolg hat mich nicht verändert, jede Ausstellung ist äußerst persönlich. Ich bringe stets mein ganzes Ich, mein gesamte Erfahrung in eine Arbeit ein.
profil: Sie sagen, dass es in Ihrem Buch über Porzellan eigentlich gar nicht um das Material gehe. Wollten Sie in "Die Weiße Straße“ eher die Faszination des Weißen ergründen, die Sucht nach Reinheit erforschen? Diese Obsession gehört sicher zu den großen Flüchen der Menschheit. De Waal: Ja, diese Leidenschaft ist unglaublich gefährlich. Ich wollte vermeiden, ein Buch über das liebliche Porzellan zu schreiben. Es geht in "Die weiße Straße“ nicht darum, wie entzückend etwa Meissner Porzellan ist.
Meine Kinder, die heute Teenager sind, werden sich mit dem EU-Austritt beschäftigen müssen, anstatt ihr Leben aufzubauen. Bisher waren sie EU-Bürger, jetzt hat man ihnen diese Zukunft genommen.
profil: Ein etwas gemeiner britischer Kritiker nannte Sie dennoch den "Messias von Meissen“. De Waal: Ich hasse Meissen! Nein, mir ging es tatsächlich um die Gefahr der Sucht nach Reinheit. Sie radiert Dinge aus, sie löscht Nuancen, verlangt zu viel von einem. Sehen Sie sich das Leiden an, das die Obsession mit der Reinheit verursacht hat. Im Narrativ des Weißen steckt immer auch der Diskurs um Rasse. Mein Buch endet, Herrgott noch mal, nicht zufällig in Dachau! Es war klar, dass Heinrich Himmler Porzellan brauchte, weil es Teil seiner Ideologie war. Die Nazis fantasierten einen Neubeginn, dieser war Teil ihrer Obsession mit dem Puren. Die Nazis hatten natürlich auch diese kitschige Seite des Klassizismus, die kleinen Tiere und Statuetten. Das war aber nur ein Ausweichmanöver. Das Weiße wurde intensiv missbraucht.
profil: Sie sind geprägt von der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, der Ihre Familie nach England verschlug. In Ihren Landsleuten scheint die Erinnerung verblasst zu sein - sie haben im Juni mehrheitlich dafür gestimmt, dem größten Friedensprojekt der europäischen Geschichte, der EU, den Rücken zu kehren. De Waal: Es ist niederschmetternd. Ich bin zutiefst pro-europäisch. Einer meiner größten Helden ist Walter Benjamin, dieser Wanderer zwischen den Welten, der sich 1940 das Leben nahm, weil ihm die Grenzen Europas verschlossen blieben. Ich glaube auch nicht, dass eine Mehrheit der Briten deshalb für Brexit gestimmt hat, weil sie Europa den Rücken kehren wollte. Diese Leute haben nicht verstanden, was das Referendum bedeutet. Es ist ein hochgiftiges Ergebnis - und es könnte andere anstecken. Sehen Sie sich an, wer Großbritannien als Erste zum Brexit gratuliert hat: Marine Le Pen aus Frankreich. Das Resultat des Referendums legitimiert rechte Politik und groben Nationalismus. Die Feindseligkeit gegen Ausländer ist ungemein gefährlich.
profil: Schadet der Brexit eher Großbritannien oder der EU? De Waal: Er ist in jeder Hinsicht ein Desaster. Es wird 20 Jahre dauern, bis wir alle Abkommen, Gesetze und Regulierungen mit der EU und der Welt abgewickelt und neuverhandelt haben. Wo ist denn mein eigener Lebensmittelpunkt? Südlondon auf der einen Seite, aber in diesem Herbst eben auch Österreich. Ich stelle in Wien aus und in Graz mit Ai Weiwei. Natürlich können wir alle Freunde bleiben. Aber es wird sehr viel schwieriger. Meine Kinder, die heute Teenager sind, werden sich mit dem EU-Austritt beschäftigen müssen, anstatt ihr Leben aufzubauen. Bisher waren sie EU-Bürger, jetzt hat man ihnen diese Zukunft genommen.
Eine geschlossene Grenze ist nur das Symbol für ein Konzept, das nicht funktioniert hat.
profil: Österreich hat eigene politische Probleme. Wir schaffen es beispielsweise nicht, einen neuen Präsidenten zu wählen. De Waal: Die politische Lage in Österreich erschreckt mich zutiefst. Ich dachte nicht, dass ich in Österreich wieder diese Rhetorik hören würde, die für Jahrzehnte verschwunden war. Seit Jahren habe ich überall auf der Welt erzählt, wie außergewöhnlich es für mich ist, eine neue Generation von Österreichern kennenzulernen, die ihre Vergangenheit bewältigt hat und Brücken zu anderen Gemeinschaften baut. "Der Hase“ wurde in Österreich sehr gut aufgenommen. Ich war bewegt und glücklich darüber, dass viele mein Gefühl teilten, wie wichtig es ist, die Geschichten wiederherzustellen, auch die Geschichte meiner Familie zurückzugeben, ja, die Geschichte insgesamt zu restitutieren. Und jetzt kommt so etwas daher!
profil: Es herrscht offenbar viel Angst. De Waal: Es ist kein Zufall, dass es in meiner Ausstellung im Kunsthistorischen Museum um Angst gehen wird. Die Menschen ziehen sich zurück, in ihre Dörfer, ihre Familien. Sie wollen denen nahe sein, die sie schützen möchten. Doch es gab immer Gefahren in dieser Welt. Wir sollten sie mit mehr Kommunikation beantworten, nicht mit weniger. Eine geschlossene Grenze ist nur das Symbol für ein Konzept, das nicht funktioniert hat.
Edmund de Waal: Die weiße Straße. Übersetzt von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay, 464 S., EUR 26,80