Ehrloser Polit-Vampir, autonome Monsterfrau: Fantastereien und Startschwierigkeiten beim Filmfestival in Venedig
Historische Gestalten treiben in Venedig derzeit ihr Unwesen, drängen wie Untote, als Wiedergänger aus dem Jenseits verflossener Zeiten unaufhaltbar ins Diesseits der großen Leinwände des Filmfestivals am Lido: der Dirigent Leonard Bernstein etwa in Bradley Coopers „Maestro“, aber auch das 1984 viel zu früh verstorbene komische US-Genie Andy Kaufman (in dem Dokumentarfilm „Thank You Very Much“) oder die erst vor wenigen Monaten verblichene Schauspiel-Diva Gina Lollobrigida (in Orson Welles’ restaurierter TV-Fingerübung „Porträt of Gina“ von 1958).
Es geht aber auch sarkastischer: Der Chilene Pablo Larraín, als Filmemacher längst eine internationale Größe („Spencer“, „Jackie“), bewegt sich mit in „El Conde“ zurück in die Gewaltgeschichte, die seine Heimat bis heute heimsucht. Vor genau 50 Jahren riss der Diktator und Massenmörder Augusto Pinochet im Zuge eines Militärcoups die Macht an sich und zog eine blutige Spur der Folterungen und Exekutionen durch die 1970er- und 1980er-Jahre. Tausende Regimegegner verschwanden spurlos; erst vor wenigen Tagen beschloss die chilenische Regierung, diese klaffende Lücke, dieses nationale Trauma gründlich zu recherchieren. Larraín fantasiert den Tyrannen in silbergrau verdüsterten Bildern und einer etwas überanstrengten Farce-Dramaturgie als Vampir neu, stellt den blutsaugenden Graf Pinochet als antirevolutionäre Kraft dar, der mit anderen reaktionären Politprominenten seit Jahrhunderten umgeht.
Ferrari mit Motorschaden
Eine andere Art von Vampir tritt im jüngsten Film des Crime- und Thriller-Konstrukteurs Michael Mann („Heat“) in Szene: Der legendäre Rennwagen-Designer Enzo Ferrari, der sowohl seine Fahrer als auch seine leidgeprüfte Ehefrau kaltschnäuzig in psychische und physische Ausnahmesituationen manövrierte, steht hier im Zentrum eines flügellahm arrangierten Eifersuchts- und Finanztrauerspiels im Motorsportmilieu der Fifties, gebaut um einen graumelierten Adam Driver, dessen teilnahmslose Darstellung des Unternehmers das Scheitern jenes Projekts, das den Markentitel „Ferrari“ trägt, entscheidend unterstützt.
Das älteste Filmfestival der Welt – es besteht seit 1932 und feiert nun seine 80. Ausgabe – hatte während der ersten Spieltage insgesamt wenig Erfreuliches anzubieten. Zum allgemeinen Verdruss trägt die fast lückenlose Abwesenheit der US-Kinostars bei, die sich bekanntlich seit Wochen im Streik, also auch im Filmpromotion-Verweigerungsmodus befinden. Und die prominente Platzierung der neuen Arbeiten dreier alternder Regisseure, denen schwerwiegende Übergriffe und Missbrauchstaten vorgeworfen werden, hat den Verdacht aufkeimen lassen, dass sich nun auch Venedig dem prononcierten Anti-MeToo-Kurs der Festivalleitung in Cannes (profil berichtete) anschließen wolle: Festspiele-Direktor Alberto Barbera hielt es für richtig, „Dogman“, den neuen Film des seit Jahren von Vergewaltigungsvorwürfen begleiteten französischen Action-Kommerzialisten Luc Besson, eine krude Mixtur aus White-Trash-Persiflage und Comics-Gangster-Trivialismo, in sein Hauptprogramm zu hieven – und daneben auch noch die aktuellen Filme von Woody Allen und Roman Polański, ungeachtet der offenen Anschuldigungen des Kindesmissbrauchs gegen Ersteren – und ungeachtet auch der Verurteilung des Letzteren wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen.
Im Labor gezeugt
Einer nur verstand es, die solcherart angeschlagene Laune am Lido, frühmorgens am dritten Tag dieses Festivals, mit gewohnter Maß- und Qualitätsarbeit zu heben: Der griechische Filmkünstler Yorgos Lanthimos, einer der originellsten Geister (und gewaltigsten Visualisten) des europäischen Gegenwartskinos, legte mit seiner neuen Arbeit, die er – nach Alasdair Grays Romanvorlage – „Poor Things“ nannte, eine weitere seiner surrealistischen Erkundungen historischer und zeitgenössischer gesellschaftlicher Befindlichkeiten vor. Die Schauspielerin Emma Stone taumelt darin höchst artistisch durch ein Leben in der viktorianischen Ära als im Labor reanimierte Kreatur, der ein innerlich und äußerlich beschädigter Wissenschafter (Willem Dafoe) das Gehirn ihres ungeborenen Babys eingesetzt hat.
Was als Frankenstein-Hommage beginnt, mutiert erst zu einer Coming-of-Age- und Sexualisierungs-Erzählung, danach weiter zu einer sozialistischen Utopie der triumphierenden weiblichen Solidarität. Die aus der Retorte springende Frau kann Freiheit und Hedonismus nicht nur genießen, sondern auch gestalten – und damit für eine gerechtere Welt sorgen. Begleitet wird das überraschend zartfühlende Klassismus- und Monstermärchen „Poor Things“ von der absonderlichen, für allerlei paradoxe Interventionen sorgende Musik des jungen Londoner Musikers Jerskin Fendrix, der damit seinen Einstieg ins Reich der Filmsoundtracks absolviert. Es wird, dies sei prognostiziert, nicht seine letzte Kino-Klangarbeit sein.