Kino

Ein Dokument der Verstörung. Zum Kinostart von Ulrich Seidls „Sparta“.

Wochenlang erhitzte der Fall „Sparta“ die Gemüter. Nun erreicht Seidls finstere Erzählung die österreichischen Kinos. Es lohnt sich, diesen Film genauer zu studieren.

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Nach einer von anonymen Vorwürfen befeuerten Medienkampagne musste der Wiener Regisseur Ulrich Seidl im Herbst 2022 um seine Karriere fürchten. Während der Dreharbeiten an dem Film „Sparta“ seien Kinder aufgrund der Achtlosigkeit Seidls und seines Teams zu Schaden gekommen, traumatisiert worden, „Gewalt und Nacktheit“ ausgesetzt worden. Die Behauptungen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wurden von zahlreichen Medien aufgegriffen, die – um die Causa schnell kommentieren zu können – den schlichten Weg der Empörung und der Vorverurteilung gingen. Was sollte falsch daran sein, sich auf die Seite angeblich misshandelter Kinder zu schlagen und nebenbei einen unliebsamen Filmemacher für seine grimmige Weltsicht und seine unangenehmen Werke abzustrafen?

Der Clou dieser Kampagne fand sich im Thema des Films: Pädophilie. Das passte bestens ins Bild; was lag näher, als anzunehmen, dass an einem Film-Set, an dem von drohendem Kindesmissbrauch erzählt wird, die Kinder selbst schlecht behandelt worden seien? Als diese schweren Vorwürfe gegen Ulrich Seidl erhoben wurden, kannte niemand den Film. Man wusste nur vage, worum er kreist: um einen (von Georg Friedrich nuanciert dargestellten) Pädophilen nämlich, der – psychisch zerrüttet und gleichsam auf der Flucht vor sich selbst – in ein rumänisches Dorf gerät, in dem er eine Art Gratis-Sommercamp für Kinder eröffnet. Physische Übergriffe verbietet er sich, aber dem Traum davon, den begehrten Kindern nahe zu sein, hängt er nach.

„Sparta“ ist Teil eines Doppelprojekts, das mit dem Film „Rimini“ begonnen wurde; ursprünglich hätte ein Film aus beiden Geschichten werden sollen, aber wie so oft bei Seidl geriet, in Zusammenarbeit mit Koautorin Veronika Franz, die Fülle des Materials zu groß. Statt eines sperrigen vierstündigen Opus magnum legte er also lieber zwei Filme vor, deren Erzählungen familiär zusammenhängen: Der großspurige Schlagersänger Richie Bravo, der in Gestalt des Schauspielers und Crooners Michael Thomas durch „Rimini“ stapft, ist der ältere Bruder des verstörten, in sich gekehrten Reisenden. Beschädigt sind sie beide, schon durch die Nazivergangenheit ihres Vaters, der dement und angeekelt in einem Altersheim seinem Tod entgegen dämmert. Der von seiner schweren Krankheit bereits gezeichnete Hans-Michael Rehberg brilliert in beiden Filmen als Nebendarsteller, in einer letzten, geradezu ungeheuerlichen Performance, die diesen Geschichten ihre enorme Fallhöhe beschert.

 

„Sparta“, entworfen übrigens auf Basis einer „Zeit“-Reportage aus Rumänien, ist ein finsterer Film geworden, eine Studie der Depression eigentlich. Der bei Seidl gewohnte, unangenehm berührende Naturalismus, dessen dokumentarische Spuren offenkundig sind, ist hier nur die Textur einer sich quälend langsam formierenden fiktiven Erzählung, die direkt ins Innere ihres erkrankten Protagonisten führt. Es ist nicht leicht, „Sparta“ zu sehen, aber der Sog, den Seidl für all jene erzeugt, die sich auf diese Geschichte einlassen, ist gewaltig. Die Ambivalenz ist Seidl am Ende aber das höchste Gut: Er richtet nicht, er feiert und verurteilt nichts und niemanden. Er zeigt, differenziert – und überlässt die Deutung, die auch ethische Einordnung seiner Spielszenen dem Publikum, das er (wie man gerade daran sehen kann) so ernst nimmt wie kaum ein anderer Filmemacher der Gegenwart.
Inzwischen erscheinen die Vorwürfe gegen Seidl nahezu verstummt zu sein; eine starke Antipathie ist in manchen Feuilletons, die weniger Kunstkritik als Moralkunde betreiben wollen, weiterhin spürbar, aber die Tatsache, dass weder die mehrfach auf den Plan gerufenen Behörden in Rumänien noch das Österreichische Filminstitut, das vor einigen Monaten sämtliche Produktionsdokumente akribisch auf Fahrlässigkeiten hin durchleuchtete, noch die betroffenen Kinder und Familien selbst dem Regisseur strafrechtlich Relevantes, nicht einmal „nur“ Sorglosigkeit oder Indifferenz vorzuwerfen haben, hat den vorgeblichen Machtmissbrauchsfall „Sparta“ in sich zusammenfallen lassen. Nun spricht der Film selbst – für sich und die Positionen seines Regisseurs.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.