Ein Gespräch über Panikattacken, Therapeuten und Voyeurismus
Frédéric Beigbeder, 1965 in einem Pariser Vorort geboren, arbeitete zunächst als Journalist und Texter renommierter Werbeagenturen. Sein Insiderwissen aus der PR-Branche verarbeitete er in dem Enthüllungsroman „39,90“, der im Jahr 2000 sämtliche Bestsellerlisten anführte – die Romane „Ein französischer Roman“ (2009), „Oona & Salinger“ (2015) oder „Endlos leben“ (2018) folgten. Soeben ist „Der Mann, der vor Lachen weinte“ erschienen. Beigbeder moderierte TV-Literatursendungen, gab 2012 sein Kino-Regiedebüt („Die Liebe währte drei Jahre“), war Herausgeber der Männerzeitschrift „Lui“ und lebt heute mit seiner Familie an der französischen Atlantikküste.
profil: Monsieur Beigbeder, vor 20 Jahren wurde Amerika attackiert. Wie erinnern Sie sich an den 11. September 2001?
Beigbeder: Es gibt nur wenige Tage in jedem Menschenleben, an denen Historisches stattfindet. An diesem Tag begann eine neue Ära. Ich wollte diese Katastrophe verstehen, die Stille in der Stadt an jenem Septembermorgen, den Respekt für die Opfer. Ich flog nach New York und schrieb kurz darauf dieses verrückte Buch.
profil: „Windows on the World“ erschien 2003. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses Buch geschrieben habe“, notierten Sie darin. Wissen Sie es inzwischen?
Beigbeder: Das Buch war das Resultat meiner Neugier und des Vorsatzes, dass Literatur keine Mission haben darf. Vielleicht kann uns die Literatur dabei helfen, Dinge zu sehen, die uns immer verborgen bleiben werden. Wir wissen schlicht nicht, was sich in den beiden Türmen nach den Flugzeugeinschlägen abgespielt hat. Es gab gute und weniger gute Gründe, dieses Buch zu schreiben.
profil: Die da wären?
Beigbeder: Ich wollte die Katastrophe vermenschlichen, um die Bilder davon durch das Schicksal fiktiver Figuren begreifbar zu machen. Die weniger noblen Gründe waren Voyeurismus und das Verlangen, in die Hölle abzutauchen.
profil: Das Restaurant „Windows on the World“ hoch oben im Nordturm des World Trade Center, schrieben Sie im Roman, sei durch das Flugzeug zur „Luxus-Gaskammer“ geworden: „Seine Gäste wurden vergast, verbrannt und zu Asche wie in Auschwitz. Wir schulden ihnen das gleiche Gedenken.“ Würden Sie das heute noch so formulieren?
Beigbeder: Ja. Technisch gesehen ist es dieselbe Todesart, derselbe Horror. Der wahre Grund, weshalb ich für diesen Roman stark angefeindet wurde, war aber, dass man mir einen despektierlichen Umgang mit den Opfern vorwarf. Sobald ich aber merke, dass es eine Geschichte gibt, die niemand anderer erzählen will, muss ich sie aufschreiben. Ich sehe nicht ein, weshalb wir schweigen sollten in all der Trauer.
profil: Der Schriftsteller Paul Auster formuliert, mit den Anschlägen habe das 21. Jahrhundert begonnen.
Beigbeder: Ein erstes und einziges Mal stimme ich mit Auster überein. Das 20. Jahrhundert endete mit dem Fall der Berliner Mauer, das 21. begann am 11. September 2001. Die Pandemie katapultiert uns gerade wieder in ein neues Zeitalter.
Werde ich ,böser Bube‘ genannt, bedeutet das doch nur, dass ich meinen Job richtig mache.
profil: In die Epoche globaler Angst?
Beigbeder: Vielleicht sind die beiden Türme in New York, die in sich zusammenstürzten, das ferne Symbol unserer Fragilität. Das World Trade Center wurde 1973 als sichtbarer Beweis menschlicher Erfindungskraft und Überlegenheit eröffnet. Als es fiel, mussten wir einsehen, wie verletzlich wir im Grunde sind.
profil: Und wie hasserfüllt wir sein können.
Beigbeder: Den Terroristen waren die Menschen egal, ihnen ging es um das Symbol der fallenden Türme, um die Macht Amerikas. Der Hass zwischen Menschen ist leider überhaupt nicht neu. Er hat immer existiert und wird bis in alle Ewigkeit vorhanden sein.
profil: Bücher über 9/11 füllen Bibliotheken. Ist darüber alles gesagt?
Beigbeder: Auf keinen Fall. Über den Zweiten Weltkrieg wird man auch niemals aufhören zu schreiben.
profil: Klimakrise, Pandemie, Verlust der Solidarität: Leben wir in freudlosen Zeiten?
Beigbeder: Ich mache mich jeden Tag auf die Suche nach Freude und Glück. Ich bin ein Feelbad-Autor, der sich nach Wohlgefühl sehnt. Wir waren uns noch nie der Zerbrechlichkeit unseres Planeten derart bewusst. Wir wissen, dass das Ende der Welt möglich ist, vielleicht sogar unmittelbar bevorsteht. Was, wenn wir den Planeten in zehn bis 20 Jahren vollkommen zerstört haben? Möglich wäre es. Ich will nicht vollkommen pessimistisch klingen, aber die wahre Besonderheit des 21. Jahrhunderts liegt vielleicht darin, dass es nicht mehr allzu lange dauern könnte. Kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Klinge ich zu betrübt? Ein Glas Wodka hilft jetzt sicher.
profil: Ein deutsches Boulevardblatt bezeichnete Sie einst als „gefürchteten Intellektuellen“. Muss man vor Ihnen Angst haben?
Beigbeder: Menschen fürchten sich vor mir? Tatsächlich? Das ist ja lustig! Weil ich mir erlaube, in aller Freiheit zu reden? Ich schreibe, wie und was ich will. Ich fürchte mich vor niemandem. Möglicherweise verursacht das bei anderen gewisse Ängste.
profil: Sie wurden auch der „böse Bube der Literatur“ genannt.
Beigbeder: Labels sind dumm! Ich fühle mich bisweilen wie ein Tier in einem Zoo, angegafft und bestaunt. Viele Autorinnen und Autoren, die ich bewundere, galten als verfemt: Françoise Sagan, Colette, J. D. Salinger. Das waren freie Menschen, die kaum zu kontrollieren waren. Menschen, die mit Extremen flirteten.
profil: So wie Sie.
Beigbeder: Werde ich „böser Bube“ genannt, bedeutet das doch nur, dass ich meinen Job richtig mache. Die Rolle eines Schriftstellers besteht darin, Emotionen bei Leserinnen und Lesern zu wecken, die Welt zu beschreiben, einen Rest an Schönheit in unserem Chaos zu finden. Ich versuche, Bücher zu schreiben, die Menschen erschüttern, ihnen die Augen öffnen. Ich durchkreuze die Normalität, liebe es, Regeln und Vorschriften zu missachten.
Labels sind dumm! Ich fühle mich bisweilen wie ein Tier in einem Zoo.
profil: Sie halten der Gesellschaft in Ihren Büchern gerne einen Spiegel vor. Was sehen Sie, wenn Sie in Ihrem Badezimmer in den Spiegel blicken?
Beigbeder: Einen Mann, der sich radikal von jenem Image unterscheidet, das ihm zugeschrieben wird. Viele wären enttäuscht, wären sie Zeuge meines Alltags. Aber genau deshalb schreibe ich: um in meinen Büchern ein anderer sein zu dürfen. Marcel Proust hat das so erklärt: Es seien in jedem Schriftsteller zwei Wesen vorhanden, wobei sich das eine sozial und
öffentlich gebe, das andere zum Schreiben den Rückzug brauche. Sie erleben gerade den öffentlichen Beigbeder.
profil: Sie sind ein Mann vieler Leidenschaften: Autor, Filmemacher, Zeitungsherausgeber, Vater. Welches ist Ihre liebste Rolle?
Beigbeder: Die schwierigste ist jene des Vaters, der Rest ist dagegen einfach. Ein Kind zu erziehen, erfordert Verantwortung, viel mehr als in der Kunst.
profil: „Ich heiße Octave Parango, und in 20 Jahren bin ich 74.“ So beginnt Ihr neuer Roman „Der Mann, der vor Lachen weinte“. In zwei Jahrzehnten werden auch Sie so alt sein. Eine Horrorvorstellung?
Beigbeder: Nein. Octave befindet sich bereits im Panikmodus. Ihm wird das unbarmherzige Verstreichen der Zeit bewusst. Er rennt in der Nacht kopflos durch Paris und versucht verzweifelt, die verflossenen Jahre zurückzuerlangen. Er überlegt, die Stadt und seinen Job als Radiokommentator hinter sich zu lassen, bei dem er Menschen ständig zum Lachen bringen muss.
profil: Das Alter bereitet Ihnen also keine Probleme?
Beigbeder: Keineswegs. Octave und ich teilen ein Problem: Wir sollten schon vor sehr langer Zeit gestorben sein. All die Dandys und dekadenten Poeten waren mit 50 längst unter der Erde: Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Alfred de Musset, F. Scott Fitzgerald. Es ist mehr als lächerlich, ein verhältnismäßig alter Mann zu sein und den „bösen Buben“ zu markieren. Cool sein zu wollen, Drogen zu konsumieren, Frauen um drei Uhr in der Früh verführen zu wollen: Das ist ganz nett, wenn man 20 oder 30 ist. Mit 55 ist es nur noch erbärmlich.
profil: Geht Ihnen die „große Heiterkeit“, über die Sie in „Der Mann, der vor Lachen weinte“ schreiben, auch selbst auf die Nerven?
Beigbeder: Ich war in den 1980er-Jahren, dem Zeitalter des Sarkasmus, ein junger Mann. Alle versuchten, möglichst zynisch zu sein. Bret Easton Ellis, den ich sehr schätzte, war der Hohepriester der Gemeinheit, der sich über alles lustig machte: Liebe und Politik waren lächerlich, alles war absurd, musste zerstört werden. Utopia war ausgeträumt, es gab keine Visionen, keine Ideale mehr, jede Form der Aufrichtigkeit wurde kaltschnäuzig hinweggefegt. Man durfte kein Romantiker sein.
profil: Wie lautet Ihr Resümee 40 Jahre später?
Beigbeder: Nach Jahrzehnten des ungehemmten Witze- und Niedermachens von allem und jedem – was haben wir erreicht? Gar nichts! Was hat meine Generation geschaffen außer großem Gelächter? Das ist die zentrale Frage in „Der Mann, der vor Lachen weinte“. Octave ist des Lachens müde. Er ist bald 60, die Erde befindet sich durch die Klimakatastrophe am Abgrund. Für die Impotenz seiner Generation schämt er sich vor seinen Kindern. Unsere Bilanz nach 40 Jahren zynischem Gelächter und emotionaler Leere fällt vernichtend aus.
profil: Haben Sie mit Ihren Büchern etwas zum Positiven verändert?
Beigbeder: Es darf kein Ziel von Literatur sein, sich nach der Lektüre besser zu fühlen. Ich schreibe keine Feelgood-Romane. Man sollte in Buchhandlungen Abteilungen mit Feelbad-Werken eröffnen, mit Büchern von Michel Houellebecq, Thomas Bernhard und mir. Das Publikum hat vergessen, dass Kunst schlicht keine Mission kennt. Kunst schafft Schönheit, blickt auf die Welt. Ziel der Kunst ist es nicht, das Gute über das Böse siegen zu lassen. Kunst darf nie Schlaf- und Beruhigungsmittel sein! Von uns Autorinnen und Autoren wird neuerdings viel verlangt: Macht, dass wir uns gut fühlen! Liefert uns gefälligst eine Moral! Das ist aber nicht mein Job. Wenn Sie tatsächlich Hilfe brauchen, besuchen Sie Ihren Psychotherapeuten oder Ihre Yoga-Lehrerin!