Ein Streitbarer: Martin Walser, 1927–2023
Am Bodensee war er geboren worden, auf süddeutscher Seite, im März 1927, als Sohn eines Kohlenhändlers und einer Bahnhofswirtin. Ebendort, am Bodensee, starb er nun auch, mehr als 96 Jahre später. Doch Martin Walser war nicht immobil, er hatte sich bewegt, weit sogar, quer durchs 20. Jahrhundert, in den mehr als 60 Büchern, die er hinterlassen hat. Seine enorme Produktivität erklärte er, allerdings nicht unlogisch, in einem profil-Gespräch mit dem bemerkenswerten Satz, er sei eben „nicht rechtzeitig gestorben“.
Nach seinem Studium, er dissertierte über Franz Kafka, arbeitete Walser als Radioredakteur und lernte über die „Gruppe 47“ Schriftsteller wie Günter Grass und Heinrich Böll kennen, aber auch den Kritiker Marcel Reich-Ranicki. 1949 veröffentlichte die „Frankfurter Rundschau“ den ersten Text Walsers, sein Romandebüt „Ehen in Philippsburg“ markierte 1957 den Durchbruch. Mit „Das Einhorn“ glückte ihm 1966 ein erster Bestseller, ein noch größerer folgte 1978 mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“, die viele neben dem autobiografisch grundierten Spätwerk „Ein springender Brunnen“ (1998) für Walsers bestes Buch halten.
Als Chronist deutscher Wirklichkeits- und Seelenzustände hatte er in seinem Schreiben stets den Imperativ des Politischen vor Augen; er bezog in ungezählten Essays zu politischen und gesellschaftlichen Kontroversen Stellung; er agitierte gegen den Vietnamkrieg, gegen die deutsche Teilung und gegen die „Instrumentalisierung“ der Shoah. Sein 2002 publizierter Roman „Tod eines Kritikers“ löste heftige Kontroversen aus, da der Protagonist Walsers Langzeitintimfeind Reich-Ranicki nachgebildet erschien. Walser stand zu seinen Widersprüchen, lebte mit den Missverständnissen, den seine Reden und Schriften allenthalben auslösten, auch mit den Antisemitismusvorwürfen, die ihm zur Publikation seines Romans „Tod eines Kritikers“ entgegenschlugen.
Als profil-Redakteur Wolfgang Paterno den Schriftsteller im März 2017 zu dessen 90. Geburtstag für ein Gespräch besuchte, hatte Walser den Termin verschlafen. Die „ohnehin einschüchternden Augenbrauenbüsche“ des eben erwachten Autors seien „noch verstrubbelter als sonst“, notierte Paterno. Das Interview selbst geriet nach einem heißen Kaffee dann doch sehr lesenswert. Er rede und schreibe nur aus Erfahrung, sagte Walser da. Vom Sterben spreche er deshalb nicht. Wenn der Tod dann komme, wolle er „am besten allein“ sein. „Es könnte ja sein, dass ich mich schlecht benehme.“
Literatur verändere die Welt übrigens nicht, im Gegenteil: Sie verkläre diese. Und dennoch: „Hätte es die Sprache nicht gegeben“, so Walser noch, „es hätte mich nicht gegeben“.