Kino

Eine Sterbende feiert das Leben

Venedigs Goldener Löwe geht an Pedro Almodóvar. Existenzialistisch, experimentell und sexpositiv: Die 81. Filmfestspiele in Venedig endeten mit naheliegenden Auszeichnungen – und dem Rücktritt eines lächerlichen Mannes.

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Die Posse um Italiens nationalkonservativen Kulturminister Gennaro Sangiuliano, 62, der im Rahmen seiner Affäre mit einer Hochzeitsmodenhändlerin offenbar Steuergeld verprasste und ihr einen Job sowie geheime Staatsinformationen zugeschanzt hatte, begleitete die 81. Filmfestspiele am Lido wie eine der Kinokunst hohnsprechende Soap-Opera. Am Ende war Sangiulianos Rücktritt perfekt, und der Minister, der angetreten war, die „linke Kulturhegemonie“ zu beenden, vergoss live auf Sendung Tränen, während er sich bei seiner Frau entschuldigte. Keine zwei Jahre hatte er im Kabinett der Postfaschistin Giorgia Meloni gedient. 

Die in Venedig versammelte Filmkunstszene nahm davon allenfalls amüsiert Notiz und ging unbeirrt ihrer Arbeit nach. In der von der französischen Charakterdarstellerin Isabelle Huppert geleiteten Jury fanden sich heuer cinephile Regiekräfte wie der Amerikaner James Gray, die Polin Agnieszka Holland, der Brasilianer Kleber Mendonça Filho und der Mauretanier Abderrahmane Sissako. Den Hauptpreis des Festivals, den Goldenen Löwen, vergaben sie aber, anders als erwartet, nicht etwa an den mutigsten oder filmisch überraschendsten Wettbewerbsbeitrag, sondern an einen großen Kinoklassizisten aus Spanien – an den bald 75-jährigen Altmeister Pedro Almodóvar, der für sein jüngstes Melodram, die Momentaufnahme einer Frauenfreundschaft gewürdigt wurde. „The Room Next Door“ detailliert die letzten Tage der Solidarität zwischen einer krebskranken Kriegsberichterstatterin (Tilda Swinton), die mit dem nahenden Tod Frieden geschlossen hat und selbstbestimmt sterben will, und einer Schriftstellerin (Julianne Moore), die panische Angst vor dem Sterben hat, aber darum gebeten wird, ihre Freundin bis ans Ende zu begleiten. Almodóvars erste englischsprachige Inszenierung ist kühl, aber bild- und farbenstark, dramaturgisch ein wenig uneben, in der Ensembleleistung großartig.

Auch die beiden Preise für das beste Schauspiel gingen an etablierte Namen, nicht an noch zu entdeckende Talente: Die australische-amerikanische Darstellerin Nicole Kidman, 57, gewann eine Coppa Volpi, übrigens noch immer benannt nach einem faschistischen Unternehmer, für ihre couragierte Performance in dem Film „Babygirl“, einer Untersuchung der vielfältigen Implikationen eines „devianten“ sexuellen Begehrens.

Mit dem Franzosen Vincent Lindon, 65, würdigte man ebenfalls einen außer Zweifel stehenden Könner seines Metiers, allerdings für sein Auftreten in einem wenig satisfaktionsfähigen, eher undifferenzierten Werk: In „Jouer avec le feu / The Quiet Son“ (Regie und Buch: Delphine & Muriel Coulin) muss Lindon als linker Arbeiter  und Alleinerzieher das Abdriften seines Sohns ins rechtsextreme Milieu erleben. Gutes Thema, schwache Form.

Den Silbernen Löwen, der zugleich der Große Preis der Jury ist, sprach man Maura Delperos Film „Vermiglio“ zu, einem dunklen historischen Bergdrama aus der Zeit des untergehenden Faschismus. An den wohl schwierigsten, zugleich aber künstlerisch lohnendsten Film der diesjährigen Auswahl, an die feministische Psycho-Vision „April“ der hochbegabten Georgierin Dea Kulumbegashvili (profil berichtete) ging der Spezialpreis der Jury. 

Als bester Regisseur wurde der junge Amerikaner Brady Corbet für sein monumentales, tatsächlich einzigartiges 70mm-Experiment „The Brutalist“ ausgezeichnet, das von nichts Geringerem als Architektur, Klassismus und Antisemitismus erzählte – und gleich auch den Hauptpreis der Internationalen Filmkritik (Fipresci) errang.

Murilo Hausers und Heitor Loregas Drehbuch für Walter Salles’ brasilianisch-französisches Militärdiktatur-Epos „Ainda estou aqui / I’m Still Here“) wurde ebenfalls prämiert. Und mit dem Marcello-Mastroianni-Award für bestes junges Schauspiel ehrte man den 22-jährigen Franzosen Paul Kircher für seine formidable Leistung in dem ansonsten etwas überproduzierten Teen-Drama „Lears enfants après Lux“ (Regie: Ludovic & Zoran Boukherma).

Die Nebenreihe „Orizzonti“ entschied eine zupackende Filmerzählung aus Rumänien für sich, die von den turbulenten Tagen vor dem Fall des Regimes Nicolae Ceaușescus 1989 berichtete: Die Jury unter der US-Indie-Regisseurin Debra Grafik zeichnete Bogdan Mureșanus „The New Year That Never Came“ als besten Film aus; die beste Regie schrieb man der Amerikanerin Sarah Friedland für ihren Film „Familiar Touch“ zu, den Orizzonti-Spezialpreis der Jury dem türkischen Filmemacher Murat Fıratoğlu und dessen Sozialkrimi „One of Those Days When Hemme Dies“. 

Und am Ende ging auch noch ein Preis nach Österreich, zumindest teilweise: Nader Saeivars von der Wiener Filmfirma Golden Girls koproduzierte iranische Kampfansage „Shahed/The Witness“ für Frauenrechte und Demokratie gewann den Publikumspreis der „Orizzonti“-Reihe. Die Tränen des Ministers interessierten da schon längst niemanden mehr. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.