Traun, 43, ist Bildhauerin, Autorin, Bühnenbildnerin, Herausgeberin des Magazins „Frauen, die auf Zäune starren“ und sommers Kapitänin des Donauwassertaxis zwischen dem niederösterreichischen Kritzendorf und dem Wiener Schwedenplatz. Ihr Interesse gilt gleichermaßen dem Inhalt, der Grafik und der Haptik ihrer 20 Exponate, die sie wie kleine Schätze behandelt. „Es steckt viel Arbeit darin, Tagebücher vor dem Vergessen und Verschwinden zu retten.“
Einst waren die Journale reine Privatangelegenheit. Spätestens durch die Tagebuch-Konvolute des Londoner Bürgers Samuel Pepys, der von 1. Jänner 1660 bis 31. Mai 1669 in zehn Heften sämtliche Intimbereiche ausleuchtete, oder die rund 35.000 Tagebuchseiten der französischen Autorin Anaïs Nin sind die Blätter aus dem Privatgebrauch literarisch geadelt. Thomas Mann, Anne Frank, Thea Sternheim, Franz Kafka, Leo Tolstoi, Victor Klemperer, Gustave Flaubert und Max Frisch hinterließen bedeutende Ich-Annalen. Der polnische Autor Witold Gombrowicz begann sein Tagebuch gleich mit vier identischen Worten: „Ich. Ich. Ich. Ich.“ Die französischen Brüder Goncourt zelebrierten ihre „allabendlichen Beichten“.
Nicht minder reizvoll die Lektüre der einzelnen Schaustücke aus der „Bibliothek der Tagebücher“. Notiz vom 9. Oktober 1972: „Mittags koche ich falschen Grenadiermarsch. Kartoffel mit dünner Wurst und Ei auf Zwiebel abgeröstet. Wir fahren ins Geschäft, wo wir viel mit Regina schimpfen, ich nachher Islandmoos kaufe.“ Erläuterung vom 13. Jänner 2004: „Wenn du 1=1 verstehst, weißt du eigentlich schon, wie man einen Freund behandelt. Komm zu mir, ich bin hier, und du weißt, wo hier ist.“ Vermerk vom 29. November 2005: „Warum darf man denn dem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen?“ Schließlich die zeitnahe Erinnerung an ein Begräbnis, 24. April 2024: „Der Redner adressiert den Michi 100 Mal in seinem Sermon, aber er ist doch tot! Dauernd der Gedanke. Und dann noch mehrfach Hinweise darauf, er, der Tote, würde herunterschauen auf uns und wir ihn wiedertreffen etc. Die Hölle.“
Es sind Kladden und Schreibhefte, in denen die Ego-Amplitude, der Ausschlag der Urteile und Meinungen, der Sinnfragen und Lebensmüdigkeit, ungebremst und ungefiltert stattfinden darf. Die digitale Kommunikation prescht im Sekundentakt dahin, wobei das Gros im großen elektronischen Gaudium untergeht. Das analoge Schreiben aber bleibt über den Tag und die Nacht hinaus, fernab von störrischem Traditionalismus. „Tagebuch zu schreiben ist total relevant“, sagt Selina Traun. „Unser aller Dauergalopp verunmöglicht zuweilen das Denken. Ein Buch, ein Stift, ein Du: Es gibt keinen besseren Ruheort.“ Tagebuchnotiz, Juni 2016: „Wir trinken Bier. Es gibt Essen. Das obligatorische persische Buffet. Und schon scheint die Welt wieder in Ordnung. Alte Zeiten, neue Zeiten.“
Infos: selina-traun.org