Urlaubslektüre

Empfehlungen: Die besten und abwegigsten Bücher für die Sommerfrische

Sommerzeit ist Lesezeit. Eine profil-Buchliste für den Urlaub mit Blauwalen und Blatthornkäfern, USA-Trips und das spanische Hinterland, Höllenfahrten und andere Guilty Pleasures.

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Alle Jahre wieder pendelt das Leben temporär zwischen kaltem Technik-Prozedere und herzerwärmender Feinstofflichkeit: Man lädt im Sommerurlaub wahlweise die Batterien auf, widmet sich dem Seelenbaumeln. Beide 
Vorhaben bedürfen idealerweise des saisonal und situativ passenden Lesestoffs, wobei die folgenden Empfehlungen über das enge Meer-Strand-Wind-Geviert der sogenannten „Strandlektüre“ hinausreichen. Welches Buch passt zum Roadtrip durch die USA? Wie sich die Zeit im auf ganzer Linie überbelegten Eisenbahnabteil vertreiben? Was lesen auf Blauwal-Expedition?
 

Urlaub mit Tieren

Wenn einer eine Reise tut, dann hat er häufig von Tieren zu erzählen – von Blauwalen über Krabbel- bis zu Katzenbataillonen. Zwischen den Inseln Pico, São Jorge und Faial, weiß das Internet Bescheid, sei bis Oktober die beste Zeit, Finn-, Pott- und Blauwale zu beobachten. Zwingende Lektüren: Bibel, Buch Jona 1,1–2,11, und Herman Melvilles Wal-Werk „Moby-Dick“ – wahlweise (im Fall von Großsäuger-Überdruss) „Wir ohne Wal“, das Debüt der späteren Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher. Die Birnbacher-Lektüre kann mit „Wovon wir leben“, dem jüngsten Roman der Salzburgerin, nahtlos fortgesetzt werden. Wanderer, Wanderin, kommst du aber nach Hydra, vergiss den Köhlmeier nicht! Nicht genug damit, dass der Vorarlberger Autor in seinem Roman „Matou“ ein umfangreiches Kapitel der Katzeninsel Hydra widmet; praktischerweise wird das Buch von einem maulflinken Kater erzählt. 

Gleichviel, ob Strand, Tal und Berg: Krabbeltier überall. Weltmänner und -frauen reisen daher mit Brehm, Fabre und Thoreau im Gepäck. Urlaubsleben in den Wäldern bedingt fast zwangsläufig die Bekanntschaft mit Ameisen: Henry David Thoreau hat dazu in „Walden“ (Kapitel: „Meine Nachbarn: die Tiere“) alles gesagt. Spoiler: Ameisen sind, was Streit und Schlachtfeld betrifft, um keinen Deut besser als wir Menschen.

Wer es beispielsweise mit Blatthornkäfern zu tun bekommt, sollte wiederum Jean-Henri Fabre lesen: Gewiss, die zehn Bände von Fabres stupenden „Erinnerungen eines Insektenforschers“ (Matthes und Seitz) sind, kofferpacktechnisch betrachtet, alles andere als vorteilhaft, lohnen jedoch jede Schlepperei. Schließlich Maestro Brehm! Man kann reisen, wohin man möchte, in „Brehms Tierleben“ findet sich allerlei Wissenswertes und Tröstliches über die Fauna der Urlaubsdestination. Beispiel Löwenbrüllen: „Selbst der Mann, an dessen Ohr zum ersten Mal diese Stimme schlägt in der Nacht des Urwaldes, selbst er fragt sich, ob er auch Held genug ist dem gegenüber, der diesen Donner hervorruft.“ Selbstverständlich weiß Brehm auch über die Walfängertruppe auf Melvilles „Pequod“ Bescheid: „Ganze Kerle, Kerle, denen die Arbeit oft eine äußerlich raue Art gibt, aber mit einem Kinderherzen in der Brust.“

Durch ein zerrüttetes Amerika

Wer A sagt, muss in diesem Fall auch B sagen. A wie Amerika. B wie James Baldwin, 1924 in New York geboren, 1987 in Südfrankreich gestorben, dessen Werk in deutscher Neuübersetzung fortlaufend im Münchner dtv Verlag erscheint. Baldwins Blick auf die von Rassismus, Armut und Polizeigewalt zerrütteten USA ist bis heute so unübertrefflich wie unbestechlich: Schönheit und Schaudern mischen sich in Baldwins Schreiben über God’s Own Country. Es gibt Hunderte USA-Bücher, die weniger über ihren Schauplatz verraten als Baldwins Romane über den jungen John Grimes, dessen Dasein durch jähe Gewalt ins Taumeln gerät (in Baldwins Debüt „Von dieser Welt“), über Tish und Fonny („Beale Street Blues“) und Rufus Scott, den begnadeten Jazzer aus Harlem, der sich in „Ein anderes Land“ das Leben nimmt. Das Baldwin-Amerika ist tatsächlich ein anderes Land: frei von Freiheitsklischees, bereinigt von jedem romantischen Glotzen. „Nach der Flut das Feuer“, so der Titel von Baldwins Essayband. 

Mi casa es su casa

Sich in den Weiten der spanischsprachigen (Literatur-)Welt verlieren. Sollte das Reiseziel Kuba, die Dominikanische Republik, Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Peru, 
Bolivien, Chile, Argentinien, Guatemala, Honduras oder Mexiko lauten, muss viel Bolaño und Chirbes mit in die Reisetasche, dazu Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“, der unverzichtbare Ratgeber für alle Lebenslagen mit jenem höchst sympathischen Ritter als Held, der gewissermaßen einen langen Urlaub von sich selbst macht. 

Roberto Bolaño, der 2003 verstorbene chilenische Epiker, und der Spanier Rafael Chirbes (1949–2015) schufen Literatur, die gluthitzeerprobt ist. „2666“ und „Die wilden Detektive“, Bolaños so anarchische wie wuchtige Romane, lassen einen den mit 1000 Büchern vollgestopften Kindle jäh vergessen. Das Chirbes-Lesepaket sollte wiederum beinhalten: die jüngst erschienenen Tagebuchbände „Von Zeit zu Zeit“, den Franco-Roman „Der Fall von Madrid“ und den Band „Der sesshafte Reisende“, Chirbes’  literarische Streifzüge durch über 40 Städte und Metropolen. Don Quijote weiß wie immer Bescheid: „Wer viel liest und viel reist, sieht vieles und erfährt vieles.“

Guilty Pleasures

Der unschlagbare Vorteil der E-Book-Reader? Lesen, ohne Farbe (und Cover) zu bekennen, ein Paradies der Guilty Pleasures. Siehe folgende Autobiografien, thematisch punktgenau passend zu Strand und Meer: „Wellengang meines Lebens“ von Sänger und Schauspieler David Hasselhoff, „Sonnenseite“ von Schlagerstar Roland Kaiser, schließlich „Herbstblond“ von TV-Entertainer Thomas Gottschalk für das gnadenlos anbrechende Urlaubsende. 

Noch mehr E-Book-Reader-Futter: viele Gigabyte Stephen King („The Green Mile“, sechsteiliger Fortsetzungsroman; „Der dunkle Turm“, achtbändig), einige Megabyte Wolfgang Hohlbein („Die Chronik der Unsterblichen“, Teile 1 bis 16) und, zum Darüberstreuen, das eine oder andere Kilobyte Maja Lunde („Der Traum von einem Baum“), Hape Kerkeling („Pfoten vom Tisch! Meine Katzen, andere Katzen und ich“) und Alain de Botton („Kunst des Reisens“; „Der Lauf der Liebe“). 

On the Road Again: Reisen per Pedes, Eisenbahn, Moped, Floß

Hermann Hesse schrieb von den „Höllenreisen durch mich selbst“. So weit sollte es im Urlaub dann doch nicht 
gehen. Am vorhöllenmäßig dicht gedrängten Adria-Sandstrand kann es freilich von Nutzen sein, in Dantes Unterweltwandertag „Göttliche Komödie“ zu blättern: „Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ Wenn schon Seele, dann diese gewaltige Seelenreise. 
Wer in heillos überfüllten Zügen unterwegs ist, findet Trost und Rat beim kürzlich verstorbenen deutschen Historiker Wolfgang Schivelbusch, einem der Großen seiner Zunft: Schivelbuschs fulminante Technikerzählung „Geschichte der Eisenbahnreise“ lässt Überbelegung und Verspätungen vergessen. 

Vom Wiener Romancier Peter Rosei lässt sich ebenfalls einiges übers Reisen lernen. Nota bene: Es geht Rosei ums Reisen, nicht ums Urlauben, schon gar nicht ums große Seelenbaumeln. In seinen Büchern ist das Unterwegssein ein wiederkehrendes Ereignis in unterschiedlichen Aggregatzuständen: Der Band „Die große Straße“ versammelt Roseis Aufzeichnungen aus fünf Jahrzehnten und drei Kontinenten; das „Album von der traurigen und glücksstrahlenden Reise“ erzählt davon, dass nach jedem Unterwegssein zwangsläufig ein kleiner Abschiedsschmerz weggedrückt werden muss. Als eine Art Alpen-Kerouac war Rosei vor mehr als 45 Jahren unterwegs. Gemeinsam mit dem Poeten H. C. Artmann, ebenfalls ein großer Verehrer des ständigen Ortswechsels, unternahm Rosei von Salzburg aus zahllose Ausfahrten mit dem Moped. So nah wie in Roseis Roman „Von hier nach dort“, der auf den motorisierten Ausflügen mit Artmann basiert, sind einander Biker-Geist und Poesie später nur mehr selten gekommen. „Reisepass, Waschzeug, Geld“, umreißt Rosei das kleine Reise-ABC: „Ich hatte alles zusammen.“ Weiteres nützliches Traveller-Latein: „Was fehlt, erfindet man.“

Gut möglich, dass es einem beim Lesen von Mark Twains Roman „Huckleberry Finns Abenteuer“ schön schummrig wird, derart ausführlich wird hier vom Schunkeln im Rhythmus der Wellen erzählt. Huck und der entflohene Sklave Jim – der Roman spielt zwischen 1835 und 1845 in St. Petersburg, einer kleinen Stadt am Mississippi – gondeln auf einem Floß den zweitlängsten Strom der USA hinab, umspült von kleinen und großen Abenteuern. Wo wir gerade bei Meister Twain sind: Auf die Leseliste gehören natürlich auch „Tom Sawyers Abenteuer“. Ja, ganz genau, das ist jener Jahrhundertroman, in dem Tom von Tante Polly zum Zaunanstreichen verdonnert wird, wobei der Hallodri durch List und Tücke sämtliche Nachbarsbuben zur Malarbeit verführt – und nebenbei ein ehernes Urlaubsgesetz entdeckt: „Tom fand die Welt alles in allem doch nicht so öde.“ Später besucht Tom übrigens sein eigenes Begräbnis, womit wir wieder bei den Himmel- und Höllenreisen angelangt wären. 

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.