Entzugs-Erscheinungen: Bob Dylans 39. Album
Nichts als sorgfältig eingewickelter Hundekot, ein Berg Windeln, Schachteln mit Frühstücksflocken, Leberwursthüllen und eine Postkarte von Mama Zimmerman mit dem Text: "Fort Lauderdale ist großartig. Lasst euch die Süßigkeiten schmecken." Gott führt ein banales Leben. Der 4. März 1971 war kein guter Tag für Alan J. Weberman, wie ein Reporter des "Rolling Stone" feststellte, der den Hardcore-Fan auf seiner Abfalljagd begleitete. Weberman, heute 75, sollte als erster Müllforscher oder "Garbogolist" in die Kulturgeschichte eingehen. An besseren Beutetagen hatte er schon Dylans Skizzen für ein Selbstporträt und einen angefangenen Brief an Johnny Cash und dessen Frau June Carter sichergestellt. "Ich war - verdammt noch einmal - der erste Dylanologe auf diesem Planeten",ist Weberman noch heute stolz. Inzwischen ist die Abfallanalyse von Stars längst Usus geworden und manchmal sogar in die Weihen von Kunstprojekten aufgestiegen. Weberman, Aktivist und erfolgloser Journalist für diverse Untergrundmedien, hatte in den 1960er-Jahren eine Obsession für Bob Dylan entwickelt, die bis heute anhält. In den Mülleimern der siebenköpfigen Familie Dylan (Ehefrau Sara, Adoptivtochter Maria und vier gemeinsame Kinder) in der New Yorker Macdougal Street und am Land in Woodstock suchte er geheime Botschaften, verworfene Skizzen oder Notizen, mit deren Hilfe Weberman herausfinden wollte, wie Dylan seine Songs schreibt. Aber the answer is blowing in the wind, my friend, denn Robert Allen Zimmerman (die Namensänderung erfolgte übrigens früh, nach dem Dichter Dylan Thomas, dessen Werk er gar nicht sonderlich schätzte) kennt sie selbst nicht. In einem Interview sagte er in seiner charmant narzisstischen Art: "Ich brauchte ganz schnell einen Namen , und den hab ich mir halt gegriffen", in einem anderen meinte er: "Ich habe mehr für Dylan Thomas getan, als er je für mich getan hat."
Auf YouTube kann man zahlreiche Pressekonferenzen finden, in denen Dylan, häufig mit einer Miene, als stünde er kurz vor seiner Hinrichtung, von Journalisten nach dem Geheimnis seiner Schaffenskraft und seiner Songs befragt, so dürr wie gelangweilt antwortet: "I dunno know, I cannot tell you, I have no idea. I just write them, man."
Neil Young gab mit Dylan im Sommer 2019 im Londoner Hyde Park ein Konzert, das viele Fans mit leeren Herzen zurückließ, da Dylan auf der Bühne wenig Stimme und seine manchmal live auftretende Lustlosigkeit spüren ließ. Young sagte über seinen Freund in einem TV-Interview: "Bob erzählte mir, dass er manchmal das Gefühl hat, ein Fremder hätte seine Songs geschrieben. Ein Mensch, mit dem er überhaupt nichts zu tun hat. Manchmal fährt es durch dich hindurch, aber du weißt, dass du es nicht halten kannst. Du besitzt es einfach nicht."
Dylans Abneigung gegen die Ignoranz von Medienleuten wuchs bereits in frühen Jahren. Bei Pressekonferenzen in den 1960er-Jahren erschienen oft Dutzende Reporter, die nie seine Musik gehört hatten und ihn mit sinnarmen Fragen torpedierten:
"Wie viele Protestsänger gibt es Ihrer Meinung nach?" (Antwort: "Ich würde sagen: 136.") "Tanzen Sie eigentlich auch?" ("Natürlich, ich bin doch Unterhaltungskünstler.") "Was ist eigentlich Ihre Botschaft?" (Eine Antwort: "Behalte einen klaren Kopf und nimm immer eine Glühbirne mit", eine andere: "Trinken Sie einfach keine harten Sachen.") "Wie alt sind Sie eigentlich genau?" ("Ich glaube 20. Yeah, 20.") In einem seiner zornigsten Songs, "The Ballad Of A Thin Man",konzentrierte Dylan seine Verachtung schon 1965 für jene Spezies von ignoranten Reportern, gegen die er sich über die Jahre einen Schutzwall aus spöttischer Arroganz gebaut hatte: "You walk into the room with your pencil in your hand/You see somebody naked and you say "Who is that man/You try so hard, but you don't understand( )Do you, Mr. Jones?" Anlässlich seines gerade erschienenen 39. Albums "Rough and Rowdy Ways" (auf Deutsch: "Raue und rüpelhafte Wege",möglicherweise wurde der Titel in altersmilder Selbsterkenntnis gewählt) gab er ein einziges Interview. Sein erkorener telefonischer Gesprächspartner während des Shutdowns in seinem Haus in Malibu war kein Mr. Jones, also kein Journalist, sondern der auf die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Rassismus-Geschichte spezialisierte Universitätsprofessor Douglas Brinkley. Brinkley hatte Dylan vor einigen Jahren auf dessen "Never Ending Tour" kennengelernt. Den Titel betrachtet Dylan als Metapher für sein Leben und-ja-auf seiner offiziellen Website werden bereits die nächsten Termine versprochen. Alter sei ein geistiger Zustand und keine Zahl, "forever young".Schon als 22-Jähriger hatte er, gefragt nach seinen nächsten Plänen, geantwortet: "Solange wie möglich da zu bleiben und das zu machen, was ich jetzt tue." Aus der Begegnung mit Brinkley war eine-für den menschenparanoiden Dylan-höchst ungewöhnliche und angeregte Diskussion über Malcolm X, die Französische Revolution und die Massaker an den Cheyenne-und Arapaho-Stämmen im 19. Jahrhundert entstanden. Brinkley war überrascht, so schrieb er in der "New York Times",wie genau Dylan darüber Bescheid wusste, er habe damals einen ganzen Stapel an Kopien über die historischen Geschehnisse aus seinem Tourbus geholt. "Deswegen habe ich überhaupt den Mut gefunden, ihn jetzt zu einem Interview zu bitten." Bei einem späteren Telefonat, nachdem George Floyds qualvoller Tod publik geworden war und das ganze Land von Anti-Rassismus-Demonstrationen bewegt wurde, erklärte Dylan, dass ihn dieses Video "sehr krank machte. Es ist das Grausamste, was ich je gesehen habe. Ich wünsche mir nur, dass Georges Familie Gerechtigkeit widerfährt." Für die George Floyds früherer Epochen hatte er sich schon immer starkgemacht-in Songs wie "Only a Pawn In Their Game", "The Lonesome Death of Hattie Carroll" oder "Hurricane".Mit der Ballade über den zu Unrecht wegen dreifachen Mordes im Gefängnis sitzenden Boxer Rubin "Hurricane" Carter, erschienen 1976 auf "Desire",einem seiner besten Alben, erreichte er, dass das Verfahren wieder aufgerollt und Carter in dritter Instanz freigesprochen wurde. Die Textzeilen "If you are black, you might as well not show up on the street/'less you want to draw the heat" besitzen wuchtige Präsenz.
In Martin Scorseses Doku-Fiction "Rolling Thunder Revue" (auf Netflix) erzählt Carter schallend lachend, dass "von all den Weißen, die mich im Gefängnis besuchten, Dylan der Einzige war, der mir nicht die Frage stellte:, Rubin, unter uns, hast du es getan?'"
Auszüge des Gesprächs mit dem Bürgerrechts-Spezialisten wurden nun kurz vor dem Erscheinen des Albums in der "New York Times" abgedruckt, dem ersten Medium, das sich 1961 Dylans "massivem Charisma" gewidmet hatte. Brinkley hatte sich auch als Autor einer scharfsinnigen Analyse der Kennedy-Ära ("American Moonshot: John F. Kennedy and the Great Space Race") einen Namen gemacht. Schon im vergangenen März war die Ballade "Murder Most Foul" aus dem neuen Album vorab veröffentlicht worden, in der er zu melancholischem Klaviergeklimper und in monotonem Sprechgesang das John-F.-Kennedy-Attentat in Dallas im November 1963 als Ausgangspunkt für den bis heute fortwährenden amerikanischen Alptraum beschreibt. "The day that they killed him, someone said to me,, Son, the age of the Antichrist has only begun'", singt er-und klagt später: "I said the soul of a nation being torn away/and it's beginning to go in a slow decay" Die 17 Minuten dauernde Polemik ist der erste Song in Bob Dylans fast 60-jähriger Schaffenszeit, der es an die Spitze der Billboard-Charts geschafft hat.
Dies ist charakteristisch, denn kaum ein Künstler in der Kulturgeschichte-abgesehen vielleicht von Picasso, den Dylan als Idol gelten lässt-hat sich mit solch gelassener Beharrlichkeit den Erwartungen der Öffentlichkeit widersetzt und sich den Anforderungen seiner Branche so gnadenlos entzogen und dabei solche künstlerische Beständigkeit an den Tag gelegt. Leonard Cohen nannte Dylan häufig "den Picasso der Songs".Seine Folk-Fans buhten ihn aus, bewarfen ihn mit Gegenständen und beschimpften ihn als "Judas und Verräter",als er 1965 bei seinem Auftritt beim Newport Folk Festival "elektrisch wurde",wie er das nannte. Die Wut der Folk-Puristen zog sich über Monate und nahm aggressive Ausmaße an: Bei Konzerten in Paris und London wurde Dylan mit Buh-Rufen empfangen, die ihn durchaus verletzt haben müssen. In einem Filmdokument erklärt er einigermaßen verstört: "Es ist eigenartig, dass Leute viel Geld für ein Ticket ausgeben, nur damit sie dich ausbuhen können." Diese Phase seines Lebens, in der Dylan mit tranceartigem Blick, in hochgeschlossenen Hahnentritt-Anzügen und dem Habitus eines rabiaten Elfs (er behauptet zwar gerne, er sei 1,75 Meter groß, aber er ist deutlich kleiner) seine Songs wie Raketen in die feindselige Dunkelheit schoss, wird gegenwärtig zum Hollywood-Film: In "Going Electric" spielt Timothée Chalamet jenen Dylan, der manchmal so vollgepumpt mit LSD und Amphetaminen auf die Bühne stolperte, dass er seine Textzeilen durcheinanderbrachte oder ganz vergaß. Ein Zeitdokument dazu ist eine Limousinen-Fahrt, in der der völlig zugedröhnte Dylan den neben ihm sitzenden John Lennon mit wirrem Zeug behelligt, worauf der mit dünnen Lippen, gleich einer gestrengen Gouvernante, peinlich berührt anmerkt: "Pull yourself together, man!"
Auf dem Gipfel seines jungen Ruhms, "der alles verschlingenden Verrücktheit, die meiner Karriere war" (so Dylan zu Scorsese in dessen Dokumentarfilm "No Direction Home"), beschloss Dylan, einen Motorradunfall zu haben. Es gibt einige unterschiedliche Varianten zu dieser Zäsur in seiner Biografie, die auch von ihm selbst in diversen Interviews in die Welt gesetzt wurden: Er habe sich das Genick gebrochen, sei im Dachzimmer eines Arztes von seiner Frau Sara gepflegt worden. An anderer Stelle habe er "nur ein paar Schnittwunden" davongetragen, und in einem "Playboy"-Gespräch erklärte er, dass er froh sei, "aus all den krassen Momenten, in denen es mit mir durchging, endlich raus zu sein". Verlässliche Dylanologen, allen voran sein Biograf Robert Shelton, sind der felsenfesten Überzeugung, dass Dylan den Motorradunfall mit seiner Triumph nur als Vorwand benutzte, um wieder "unsichtbar zu werden",wie er im ersten Teil seiner Autobiografie "Chronicles" (der zweite Teil wird nächstes Jahr erwartet) beschreibt: "Welche Sorte von Alchemie, fragte ich mich, könnte ein Parfüm hervorbringen, das die Reaktionen der Leute auf mich wieder lauwarm, desinteressiert und apathisch machen könnte?"
Dylan blieb neun Jahre im familiären Shutdown ohne öffentliche Auftritte in Woodstock. Sein geplantes Erscheinen beim gleichnamigen Festival 1969 sagte er mit der flachen Begründung ab, dass sein Sohn plötzlich krank geworden sei. Die Wienerin Marlene MacDonald-Czernin hatte zu dieser Zeit als Haushälterin bei den Dylans angeheuert: "Dylan aß viel Thunfisch, trug wild gemusterte Hemden mit weiten Ärmeln, seine Kleidungsstücke ließ er zu Boden segeln. Der Haushalt war ziemlich chaotisch. Er hat mir nie etwas angeschafft, manchmal war er ein wenig soziophob. Als ich mich einmal an den Küchentisch setzte, stand er wortlos auf. Seine Frau Sara tröstete mich:, Mach dir nichts draus, Bob hält es nicht aus, wenn Menschen ihm zu nahe kommen.'"Über dieses Gefühl hat er einige seiner besten Songs geschrieben: "Like A Rolling Stone", "Tangled Up in Blue", "Don't Think Twice, It's Alright", "It's All Over Now, Baby Blue".
In einer der anrührendsten Nummern auf "Rough and Rowdy Ways", in "I Contain Multitudes" gibt Dylan mit einer Stimme, die immer mehr "nach einem räudigen Koyoten" klingt, wie er sie selbst einmal beschrieb, eine Bedienungsanleitung zu all den Widersprüchlichkeiten, die Teil des Dylan-Konzepts sind. Dort vergleicht er sich mit Anne Frank, Indiana Jones und raunt: "I go right to the edge /I go right to the end /I go right where all things lost are made good again." Auch einen kleinen Flirt mit dem Tod findet man dort, der sich wohldosiert (in "Black Rider" und "Crossing the Rubicon") durch das Album zieht. Der Tod ist in diesem Fall eine Frau. Das muss bei einem berüchtigten Womanizer wie Dylan wohl so sein: "Get lost, madame, get up off my knee /Keep your mouth away from me."
Doch der Tonfall des neuen Albums versinkt nicht nur in spröder, aber dankenswerterweise nie selbstmitleidiger Melancholie, sondern besitzt mit Nummern wie "False Prophet","My Own Version of You" und "Goodbye, Jimmie Reed" auch eine fast trotzige Energie mit viel rauem Blues und schlichtem, aber desto eindringlicherem Rock. Jimmie Reed war übrigens jener Blues-Musiker, von dem der junge Bob Dylan sich die Mundharmonika-Halterung um den Hals abgeschaut hat.
Sollte dies tatsächlich Dylans letzte Platte gewesen sein, was niemand wirklich glauben möchte, dann ist er mit einem unaufgeregten Meisterwerk abgetreten. Wäre da nicht Dylans noch immer eindrucksvolle, aber schon leicht ausgedünnte Schmirgelpapierstimme, hätte das Album, was die Modernität des Sounds betrifft, genauso vor 30 Jahren entstehen können. Und das ist gut so. Dylan behauptete ja immer von sich selbst, dass er auf der Gitarre mit nicht mehr als drei Akkorden über die Runden gekommen ist. Und dass er an die Wucht der Einfachheit glaubt. In einer frühen Bootleg-Aufnahme weist er seine Band wütend mit den Worten zurecht: "Hört auf damit! Macht nichts zu Schickes, bleibt einfach! Das kann doch nicht so schwierig sein."
Einige der neuen Nummern klingen so, als ob der alte Mann in den seltsamen Cowboy-Klamotten und den nicht immer echten Locken sich in dieser heruntergekommenen Bar, knapp vor Sperrstunde, noch einmal das Mikrofon schnappt und dabei, wie es in einer Zeile heißt, den letzten Gästen ganz klar zeigen will: "I'm the last of the best / you can bury the rest."