"Die Erwählten": Die NS-Mordklinik "Am Spiegelgrund" als Romanstoff
Steve Sem-Sandberg macht sich auf den Weg in das ehemalige Totenreich. Er stapft unter einem wolkenlosen Himmel auf knirschendem Kies zur Otto-Wagner-Kirche hügelan, biegt auf Höhe der Pavillons 15 und 17 links ab. Sem-Sandberg, 57, lebt seit einiger Zeit in der Stadt, er kennt die Wege und Abkürzungen auf dem Gelände der Steinhofgründe. In Wien entstand sein dokumentarischer Ghetto-Roman "Die Elenden von Łódź“ (2011). In den vergangenen sechs Jahren schrieb er "Die Erwählten“, seine literarische Annäherung an die Geschichte der städtischen Kinder- und Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund“, die 1940 auf dem Steinhof-Areal eröffnet wurde und bis heute als Synonym für das größte, systematisch durchgeführte Verbrechen der NS-Zeit in Österreich gilt.
Die Überlebenden des organisierten Massenmords haben ihre Augenzeugenberichte publiziert. Johann Gross geriet als Zehnjähriger in die Fänge der NS-Erziehungsanstalt, in den Bannkreis seines gefürchteten Namensvetters Heinrich Gross, seit Februar 1939 eingeschriebenes NSDAP-Mitglied, Nummer 6335279, und ab November 1940 federführender Mediziner "Am Spiegelgrund“. In "Spiegelgrund“ (2000) berichtete Johann Gross (1930-2012) von seinem Martyrium. Friedrich Zawrel (1929-2015) trat seine Odyssee durch Anstalten und Kinderheime als Dreijähriger an. In der Kinodokumentation "Meine liebe Republik“ erinnerte er sich an seinen Aufenthalt in der Euthanasieanstalt von 1942 bis 1944. Alois Kaufmann ist einer der letzten Überlebenden des Mordprogramms an Kindern und Jugendlichen. Bis heute erzählt er vor Schulklassen von der Vergangenheit. Mit zittriger Schrift signiert er sein Buch "Totenwagen“ über eine verlorene Kindheit: "Liebe und Menschlichkeit sind der Fels unseres Lebens.“ 1)
Sem-Sandbergs Roman, der einen erzählten Zeitraum von einigen Jahrzehnten umfasst, ist die erste explizit literarische Annäherung an den "Spiegelgrund“-Komplex. In "Die Erwählten“ sind die Namen und Lebensläufe der Opfer fiktionalisiert, die Täter jedoch bei ihren realen Namen genannt. Adrian Ziegler ist so etwas wie die Hauptfigur des Romans, der selbst an seinen Rändern nicht ins Pseudohistorisch-Ausschmückende ausfranst und seinen präzise-nüchternen Erzählton bis zum Ende beibehält. Die verbürgten historischen Ereignisse geben den Rahmen dieser Erzählung vor. Sem-Sandberg, ein unermüdlicher Faktensammler und Detailrechercheur, gießt historisches Wissen aber nicht nur in narrative Muster: "Die Erwählten“ ist ein knapp 600 Seiten starkes Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz, das sich wie ein Roman liest. Der Autor verharrt nicht in einem vorgegebenen historischen Koordinatennetz. Er öffnet immer wieder Echoräume, in denen auch Fragen zur Conditio humana aufgeworfen werden.
Was sich zwischen 1940 und 1945 auf den Steinhofgründen ereignete, wurde zu einer Chiffre für den Umgang Österreichs mit seiner Geschichte, der fortgesetzten Abfolge des Verdrängens, Verleugnens, Verschlampens. "Die Ärzte und Pflegerinnen waren aber keine Dämonen, sondern gewöhnliche Frauen und Männer. Diese Einsicht sollte wirklich Angst machen: wie sich nämlich unscheinbare Menschen in gefügige und unterwürfige Sklaven der Macht verwandeln“, sagt Sem-Sandberg, graues Sakko, eine braune Tasche mit Büchern geschultert, bereits ein wenig außer Atem. Er ist vor dem Pavillon 15 angekommen, in dem zahllose Kinder ermordet wurden. "Die Frage lautet: Was hält diese Geschichte für einen Schriftsteller bereit? Die Chronik ist ja bereits erzählt.“
Die Chronistin
Waltraud Häupl hat vielen getöteten Kindern ihre Geschichten zurückgegeben. Häupl, 80, sitzt an einem dunklen, schweren Holztisch in ihrer Wohnung nahe der Wiener Innenstadt. An die Anfänge ihrer Beschäftigung mit der Mordklinik erinnert sie sich, als ob es gestern gewesen wäre. Im März 1997 sieht sie, wie in den Fernsehnachrichten lange Reihen von Gläsern mit konservierten Gehirnen ermordeter Kinder gezeigt werden, die sterblichen Überreste von 400 Opfern, die im Keller der Prosektur der ehemaligen Pflegeanstalt "Am Spiegelgrund“ entdeckt wurden. Das war der Auslöser. Sie ahnt nicht, dass dieser Abend den Beginn einer Lebensaufgabe markiert. Seit damals hat Häupl rund 2000 Todesgeschichten aus den Kellern vieler Archive gehoben, in ihrer Wohnung wachsen die Bücherregale mit Ordnern und Mappen bis an die Decke, akkurat beschrieben und alphabetisch geordnet. Gegen massive Widerstände hat sie 2006 die Dokumentation "Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund“ publiziert. Viele Überlebende saßen früher an dem dunklen Wohnzimmerholztisch. Hier konnten sie über die erlittenen Qualen, den Sadismus der Erzieherinnen endlich frei sprechen. Die anfängliche Solidarität der Opfer untereinander ist aber bald zerbrochen. Der Kampf um die Deutungshoheit der historischen Ereignisse führte zu jahrelangen Konflikten. Man stritt sich, geht einander bis heute aus dem Weg.
Ab 1940 starteten "besonders vertrauenswürdige und zuverlässige Ärzte“ - so die Nachkriegsaussage von Karl Brandt, Hitlers Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen - die Aktion "T4“, ein Massenmordprogramm. Mit der Durchführung wird der Berliner "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ beauftragt. Die Bestätigung der von den Ärzten formulierten Diagnosen und Prognosen durch den "Reichsausschuss“ kommt einem Todesurteil gleich. In ausgewählten Kliniken wurde "lebensunwertes Leben“ häufig durch den Einsatz eines bis heute produzierten Medikaments systematisch vernichtet: Luminal stört die Durchblutung der Lunge und erschwert das Atmen. In zahllosen Todesbescheinigungen vom "Spiegelgrund“ findet sich die stereotype Diagnose "Lungenentzündung“.
In den Pavillons 15 und 17 war das Morden Alltag, das pseudowissenschaftlich und scheindiagnostisch verschleiert wurde. Die Notizen der Ärzte sind keine medizinischen Beurteilungen, sondern niederträchtige Beschimpfungen. Mit kaltem Zynismus erledigen sie ihr Handwerk. "Hässliches Gesicht, bis zum Skelett abgemagert“, so das Todesurteil über ein 15-jähriges Kind. "Gesicht sieht sehr verhutzelt aus … erbbiologisch ist die Sippe sehr minderwertig“, verurteilt Gross ein zehnjähriges Mädchen mit wenigen Worten zum Sterben.
Anfang Dezember 1941 schreibt Gross einem besorgten Vater, dass sich dessen Sohn "bester Gesundheit“ erfreue, selbstverständlich könne er "dem Kinde zu Weihnachten etwas schicken“. Acht Tage später wird das Kind dem "Reichsausschuss“ gemeldet und stirbt Ende Jänner 1942. "Eines der Kinder wird von Primarius Illing als, Posaunenengel‘ beschrieben“, sagt Waltraud Häupl, deren Gesicht momentlang einer Landkarte der Trauer gleicht. "Es muss ein ganz liebes Kind gewesen sein, wenn selbst ein Mörderarzt so etwas schreibt.“ Fast 800 Kinder und Jugendliche fallen in Wien dem Massenmord im Rahmen der NS-"Euthanasie“ zum Opfer. Häupl hat viele vor dem Vergessen bewahrt.
In "Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund“ hat Häupl auch die Geschichte ihrer Schwester Annemarie erzählt. Annemarie wird mit knapp drei Jahren Anfang Juni 1941 in die Anstalt aufgenommen, die amtsärztliche Untersuchung, die diesem Schritt vorausgeht, hält fest, dass es sich um ein "kräftiges, aber kleines Kind“ handle, das "keine Missbildungen“ aufweise. Annemarie, so der Amtsarzt, sei "nicht schwachsinnig“, sondern "entwicklungs- und erziehungsfähig“. Gross diagnostiziert bei der Aufnahmeuntersuchung: "Idiotie 1A.“ Vier Monate später kommt der Arzt zu folgendem Urteil: "Neurologisch zeigt sie keine Besonderheiten. Eine Encephalographie ist misslungen … ist tiefstehend idiotisch. … Die geistigen Funktionen sind eher zurückgegangen. Nach ärztlicher Voraussicht wird sie dauernd bildungsunfähig und pflegebedürftig bleiben.“
Am Tag darauf, am 23. September 1942, fügt Gross dem Diagnosebogen handschriftlich hinzu: "Im Anschluss an den noch bestehenden Keuchhusten an Lungenentzündung erkrankt. Das Allgemeinbefinden ist sehr schlecht.“ Der Eintrag vom 25. September lautet: "Sehr schlechte Atmung. Schlechtmeldung an die Angehörigen.“ Die Eltern werden via Telegramm verständigt: "Zu meinem Bedauern muss ich Sie in Kenntnis setzen, dass Ihr Töchterchen Anna im Anschluss an Keuchhusten an Lungenentzündung erkrankt ist. Der Zustand muss als bedenklich angesehen werden.“ Am nächsten Tag übernimmt die um drei Jahre ältere Schwester Waltraud die ebenfalls telegrafische übermittelte Todesmeldung. Sie bringt das Schriftstück ihrer Mutter in die Waschküche. Das Bild, wie die Mutter inmitten von Dampf und Hitze das Schriftstück liest, hat Häupl bis heute vor Augen. Es gibt ein Foto von Annemarie, das Gross, der nach eigener Aussage in Wehrmachtsuniform seinen Spitaldienst verrichtete, bei der Erstaufnahme machte. Das Kind, nackt, verkrampft, verschreckt, weint darauf erbarmungswürdig. "Es ist, als stürzte eine Schlammlawine mit gigantischen Felsbrocken über einem zusammen“, fasst Häupl ihre Arbeit in Worte.
Steve Sem-Sandbergs Roman vermeidet jede durchsichtige Historisierung und Dramatisierung der Ereignisse. Der Erzähler ist auf möglichst große Distanz zu den Geschehnissen bedacht: Er umgeht jede vage Psychologisierung, Dämonisierung und Moralisierung - und macht auf diese Weise Historie lebendig. "Die Erwählten“ ist kein an Handlung und Ereignissen reicher Roman, sondern eine große Erzählung über die Vergangenheit und Mahnmal zugleich, ein Meisterstück der historischen Tiefenbohrung mit den Mitteln der Poesie, die das Unfassbare zu bannen und für die Gegenwart verständlich zu machen sucht. "Als Autor möchte ich keinem Leser sagen müssen, was er über die Charaktere im Buch denken soll“, sagt Sem-Sandberg. "Ich zeige auf, wie Figuren agieren. Ich hasse es zu moralisieren. Das überlasse ich Politikern und Philosophen.“
In der fiktiven Biografie Adrian Zieglers schimmern nüchtern erzählte Abschnitte der Lebensgeschichten von Johann Gross, Alois Kaufmann und Friedrich Zawrel durch: Wie Gross in der Tasche nach einem Bonbon kramt, von dem er das Papier langsam entfernt und in den Mund eines Kindes stopft; wie Adrian in Einzelhaft genommen, mit Spritzen und eiskalten Wickeln sonderbehandelt und entblößt als lebendes Modell in einem Saal voller vermeintlicher Schwesternschülerinnen vorgeführt wird; wie Adrian unvermutet einen Handwagen entdeckt: "Die Klappe ließ sich überraschend leicht öffnen, so als habe ihm eine unsichtbare dritte Kraft unter den Ellbogen gegriffen und geholfen, sie anzuheben. Drin lagen drei Kinderleichen in seltsamem Winkel, als habe man beim Hineinwerfen keine Rücksicht darauf genommen, wie sie landeten. Die Körper waren nackt, die Haut gelblich wie altes Wachs und die Gesichter kaum mehr Gesichter, mit Mündern wie leere Höhlen und gelben Zahnreihen wie unter den hochgezogenen Lippen eines Pferdes.“
Nach Kriegsende trifft Adrian in der Untersuchungshaft auf seinen einstigen Peiniger: "Auf dem einen Stuhl hatte bereits der renommierte Rechtspsychiater Platz genommen, und er blickte erst auf von den Akten, in denen er blätterte, als Adrian sich bereits im Raum befand und der Wärter die Tür hinter ihnen geschlossen und verriegelt hatte. Mein Name ist Doktor Gross, sagte er dann und nahm die Brille ab.“ 1979 wird Friedrich Zawrel von Gross in einem Gutachten als "aktiv soziopathischer Hangtäter“ denunziert.
Der Skandal
In Heinrich Gross bündeln sich mehrere Skandale in einer Person. Die ehemalige profil-Redakteurin Marianne Enigl hat ab 1995 die verdrängte Geschichte der Kinder vom "Spiegelgrund“ neu aufgerollt, die eineinhalb Jahrzehnte zuvor durch den Überlebenden Zawrel und den Arzt und Publizisten Werner Vogt an die Öffentlichkeit gebracht worden war. Enigl machte in aufsehenerregenden Artikelserien darauf aufmerksam, dass die sterblichen Überreste der Kinder vom "Spiegelgrund“ auch 50 Jahre nach dem NS-Terror immer noch der Beisetzung harrten, und publizierte bislang unbekanntes Belastungsmaterial gegen den NS-Arzt.
Bereits 1980 veröffentlichte profil Originalzitate von Gross, damals Primarius am Wiener psychiatrischen Krankenhaus Steinhof, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Missbildungen des Nervensystems und einer der meistbeschäftigten Gerichtsgutachter Österreichs. profil zitiert 1980 aus dem Gerichtsverfahren, das Gross gegen Vogt angestrengt hatte: "Auch das, Wie‘ habe ich nicht gewusst. Habe ich erst nachher erfahren, dass sie Luminal ins Essen gegeben haben, die Schwestern. Das war dann ein allmähliches Hineindämmern in den Tod, mit dem Luminal. Ja, Luminal, das war das, was meist bei der Behandlung verordnet wurde. Ich auch. Ich habe auch Luminal verordnet. Zur Beruhigung, allerdings.“
Seine Reaktion auf die Eröffnung der "T4“-Geheimaktion durch seinen damaligen Vorgesetzten Erwin Jekelius, den ersten ärztlichen Leiter der Klinik, beschönigt Gross noch 1980: "Sofort, habe ich gebeten. Nachdem, was ich vorher zu erfahren geglaubt habe, habe ich Jekelius gebeten, mich mit diesen Dingen nicht zu befassen. Net wahr.“ Bereits im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde festgestellt, dass es völlig ausgeschlossen gewesen sei, über die "T4“-Maßnahmen eingeweiht und daran nicht beteiligt gewesen zu sein. Mit "Rassenkunde“ habe seine medizinische Arbeit nichts zu tun gehabt, so Gross 1980 in profil: "Ich habe niemals irgendwann einmal unmittelbare oder mittelbare Handlungen gesetzt, die zum Tod von Erwachsenen oder Kindern geführt haben. Niemals. Genau. Nie. Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern.“
1948 wird Gross nach kurzer Kriegsgefangenschaft in der Steiermark verhaftet und 1950 wegen Beihilfe zum Totschlag an Kindern zu zwei Jahren Kerker verurteilt; das weiter geführte Verfahren wird nach Abbüßung der Haft eingestellt; 1955 kehrt er als Arzt in die Heil-und Pflegeanstalt "Am Steinhof“ zurück, auf jenes Gelände, auf dem die NS-Morde stattgefunden hatten. Die "Studien“ mit den sterblichen Überresten der Opfer setzt er ungebrochen fort. "Ich habe viele Arbeiten über Gehirnschnitte gemacht, insgesamt 1500 Gehirne, bitte schön. Ungefähr 300 von damals, aber nicht nur von Kindern“, wird er später sagen. 1981 sieht es das Wiener Oberlandesgericht als erwiesen an, dass Gross bis 1945 "nicht bloß an wenigen, sondern sogar an einer größeren Zahl von Tötungen“ mitbeteiligt gewesen sei. Im Totenbuch des "Spiegelgrunds“ sind 789 Kinder vermerkt, die der "Euthanasie“ zum Opfer gefallen sind. Nachweislich 238 Totenscheine hat Gross unterzeichnet.
1995 veröffentlicht profil weitere belastende Dokumente. Im November 1998 spricht Gross im profil-Interview zum ersten Mal über den Verdacht, Kinder "Am Spiegelgrund“ getötet zu haben - und attestiert sich Verhandlungsunfähigkeit: "Ich kann ja nichts aussagen, ich hab ja schon fast alles vergessen. Ich weiß meine allgemeinen Daten, aber von einzelnen Fällen, die sie mir zum Vorwurf machen, da weiß ich gar nix mehr.“ 1999 wird Anklage gegen Gross wegen Mordes (als Beteiligter) an neun Kindern erhoben, Ende März 2000 beginnt der Geschworenenprozess. Gross stirbt im Dezember 2005 im 91. Lebensjahr. Er wurde nie wegen Mordes verurteilt. In mehr als 600 Urnen wurden 2002 die sterblichen Überreste der Kinder in einem Ehrengrab der Stadt Wien bestattet, Grabanlage Gruppe 40, ein großer Stein mit der Inschrift "Niemals vergessen“ auf der Ruhestätte. Es ist eine österreichische Geschichte in Hunderten Todesgeschichten.
Der Augenzeuge
Alois Kaufmann, 81, hat eine Lebensirrfahrt hinter sich, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar ist. Er kommt 1943 in die Fürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund“. Er erinnert sich, wie Gross den drei Buben die Bonbons in den Mund gestopft hat, die bald darauf nicht mehr da waren. Kaufmann wurde geschlagen, gespritzt, gequält. "Wir mussten Ordnung halten, durften nicht sprechen, hatten gerade zu stehen, sonst folgte sofort die Bestrafung.“ Unter den Kindern habe es aber auch kaum Kameradschaft gegeben. "Wer anderes von sich gibt, erzählt Märchen.“ Kaufmann, helles Hemd, Hosenträger, sitzt in seinem hell eingerichteten Wohnzimmer und kämpft mit den Tränen. Er hat Mühe aufzustehen. Der Rücken. Die Beine. Er läuft vorsichtig und langsam durch die Wohnung, fast wie ein Geist. Kaufmann trägt den Ernst eines Menschen im Gesicht, der mit neun Jahren aus der Welt gerissen wurde. "Die Geschehnisse am, Spiegelgrund‘ waren ein Sprungbrett zum Holocaust.“ Für ihn gebe es nur ein Ziel: "Die Wahrheit zu sagen, so lange ich lebe.“
Steve Sem-Sandberg wandert weiter über das Steinhof-Areal. Er krallt mit seinen Fingern Anführungszeichen in die Luft, wenn er über "Wahrheit“ spricht. "Der Zugang zur Geschichte darf nicht sakrosankt sein und allein aus Dokumenten und mihilfe von Archiven erschlossen werden. Dann wäre Geschichte regelrecht tot, ausgenommen für jene Menschen, die gezielt forschen. Der einzige Weg, historische Ereignisse greifbar zu machen, ist jener, sie mit lebendiger Gegenwärtigkeit auszustatten.“ Sem-Sandbergs Roman vermittelt eindrücklich, dass die Verbrechen an den Elenden von Wien von Menschen begangen wurden, die keine Teufel waren, sondern biedere Nachbarn und Arbeitskollegen. "Die Erwählten“ vermittelt ein Wissen um die Schrecken der Vergangenheit, die kein Archiv preisgibt, und eine Form der Wahrheit, die tiefer reicht als die bloße Kenntnis der Fakten.
1) Johann Gross: Spiegelgrund. Leben in NS-Erziehungsanstalten. Ueberreuter, 159 S., EUR 9,99; Alois Kaufmann: Totenwagen. Kindheit am Spiegelgrund. Mandelbaum, 125 S., EUR 19,90; Friedrich Zawrel/Elisabeth Scharang: Meine liebe Republik. Hoanzl.