Protest gegen Rechts: Es ist immer jetzt
Der Wiener Historiker und Politikwissenschafter Walter Manoschek, Jahrgang 1957, hat seine Finger ein Arbeitsleben lang in Wunden gelegt. Er hat, um im Bild zu bleiben, den Schorf von Österreichs Nachkriegsnarben, die oberflächlich sonderbar schnell verheilten, abgekratzt. Manoscheks Forschungen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich und Deutschland waren stets erhellende Ereignisse: Er untersuchte den „Fall Rechnitz“, jenen Massenmord zu Kriegsende an knapp 200 ungarischen Juden im Südburgenland, deren Gräber bis heute nicht gefunden wurden. Eine schwärende Wunde. Vor mehr als zehn Jahren publizierte Manoschek seine Gespräche mit dem ehemaligen SS-Unterscharführer Adolf Storms unter dem Titel „Dann bin ich ja ein Mörder!“ als Dokumentarfilm wie als Buch: Storms war am 29. März 1945 einer der mutmaßlichen Haupttäter des Blutbades der Waffen-SS-Division „Wiking“, bei dem im burgenländischen Deutsch Schützen mindestens 57 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordet wurden. „Von der Seite eines Wissenden betrachtet“, schrieb Elfriede Jelinek über den Film: „In aller Klarheit, ohne Naivität, sogar ohne Dämonisierung der Täter. Das ist eine große Kunst.“
Nun folgt Manoscheks nächster Schlag. In seiner jüngsten Studie „Vernichtet“ (erschienen im Wiener Czernin Verlag) verdichtet sich das Nie-Wieder, das gegenwärtig Hunderttausende Menschen europaweit auf die Straßen treibt, um gegen den Rechtsextremismus zu protestieren, auf drastisch-nachhallende Weise. „Vernichtet“ ist historische Puzzlearbeit in bestem Sinne, geschrieben als Protokoll ohne jede Ausschmückung. Insgesamt existierten im Generalgouvernement Polen 342 Ghettos, die mit Beginn der „Aktion Reinhardt“ im Frühjahr 1942 zu Zwischenstationen auf dem Weg zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung wurden. Über 9.000 Wiener Jüdinnen und Juden wurden zwischen Februar 1941 und Mai 1942 in Todeslager wie Kielce, Modliborzyce, Opatów oder Izbica deportiert.
Manoschek folgt den verstreuten, oft genug verloren gegangenen Spuren der Ermordeten anhand von persönlichen Briefen, Dokumenten aus Nachkriegsprozessen und, wie bei diesem Autor üblich, gewissenhafter Recherche. Er klärt auf, wägt ab, eruiert Namen, tastet sich, der Unermesslichkeit des Themas angemessen, an jäh auseinander gerissene Lebensläufe heran. „Es gibt nur eine Sorge“, schreibt die Ghettoinsassin Sophie Szécsi im Mai 1945: „Sich am Leben zu erhalten, durchhalten, nicht untergehen. Viele Leute sind schon über alles hinweg!“ Manoschek durchleuchtet einen rudimentär erforschten Teil des Grauens, nahezu mikroskopisch, durch den die Grenzenlosigkeit des Massenmords schimmert.
Walter Manoschek ist längst seine eigene Schule der Geschichtsschreibung. Wir alle sollten von ihm lernen. Auch deshalb, weil er stets wusste, dass nie wieder immer jetzt ist.