Alles außer „United By Music“
Eurovision-Fans sind engagiert. Jahr für Jahr lernen sie 37 Lieder auswendig – Sprache egal – bezahlen 50 Cent, um für ihre Favoriten anzurufen, quälen sich durch eine nicht endendwollende französische Ballade und ertragen das schwarze „Equality“-T-Shirt von Ö3-Mann Philipp Hansa bei der finalen Punktevergabe. Blaue Fahne, gelbe Sterne, Regenbogen und eine finnische Performance irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. ESC heißt: eine Woche Party, eine Woche gute Laune, eine Woche europäische Eintracht. Der Musikwettbewerb ist mittlerweile das, was die Europäische Union gerne wäre: kultig, kitschig, verbindend und ganz sicher auf jeder Titelseite. Auf ihn ist man in Europa noch stolz, schließlich ist er so herrlich unkompliziert, so ehrlich schräg.
Nun, diese Illusion ist nach dem ESC in Malmö wohl auch beim letzten ESC-Ultra ins Wanken geraten. In einer Zeit, in der man von einer strittigen Diskussion in die nächste stolpert, wäre vielen eine kurze kollektive Verschnaufpause willkommen gewesen. Europa beschäftigt sich momentan vor allem mit Krieg, Populismus und Klima- und Demokratiekrisen, die einzelnen Social-Media-Feeds sind derart individualisiert, dass es das eine popkulturelle Phänomen, über das alle reden können, nicht mehr gibt. Der Songcontest kam da als Projektionsfläche gerade recht; endlich wieder einmal auszuatmen, gemeinsam als europäische Öffentlichkeit einem Mann ohne Hose dabei zuzusehen, wie er aus einem Jeans-Ei klettert – irgendwie kommen wir ja doch ziemlich gut miteinander aus.
Passiert ist am Wochenende dann aber das genaue Gegenteilt. Der krampfhafte Versuch der European Broadcasting Union (EBU), jegliche Politik vom ESC rauszuhalten, endete im wohl politisch umstrittensten ESC seit langem. Das Ergebnis: Ein ausgeschiedener Niederländer inklusive äußerst verärgertem niederländischen Rundfunk, der die Punktevergabe im Finale schwänzte, Polizeischutz für die israelische Sängerin, tosende Buhrufe bei ihrem Auftritt und tausende Pro-Palästina-Demonstrant:innen vor ihrem Hotel, abgeschaltete Mikrofone, abgesagte Pressekonferenzen, mehrere EBU-Krisensitzungen. Im Saal führte man eine restriktive Flaggenpolitik, unter anderem bedeutete das keine Palästina-Fahnen, am Ende beschwerte sich sogar die EU-Kommission, dass ihnen nicht genug Europaflaggen gezeigt wurden und die Gewinner-Delegation Schweiz musste eine Non-Binary-Fahne für ihren nicht-binären Act Nemo unauffällig in die Halle schmuggeln.
Der selbsternannte „unpolitische ESC“, die geplante Verschnaufpause für die europäische Öffentlichkeit, wurde zum Austragungsort der Nahost-Debatte – nur eben ohne die politischen Verantwortlichen, mit wenigen Argumenten und Reflexion und einem Haufen performativer Symbolik. Im Zentrum die Frage: Wie ist es dazu gekommen, dass wir das alles jetzt zwischen Pferdeschwanz-Harfen und ABBA-Hologrammen diskutieren? Und Gegenfrage: Warum eigentlich nicht?
Die EBU war darauf nicht vorbereitet. Und das, obwohl sich eine solche Situation durch ESC-Boykott-Aufrufe wegen der Teilnahme Israels im Vorhinein schon abzeichnete. Wirklich gefragt, wie man die israelische Delegation bei diesem Event vor Antisemitismus schützen kann und dem Motto „United By Music“ gerecht werden möchte, ohne Künstler:innen einen Katalog von „darf man“ und „darf man nicht“ vorzulegen, hat man sich dort offenbar trotzdem viel zu wenig.
Die ESC-Fans hat das mitgenommen. Der grobe Tenor nach der Veranstaltung: „I dont feel very ‚United By Music‘ right now“, zumindest las man das auf X (vormals Twitter). Da hat auch der Finne ohne Hose nicht geholfen.