Ihren zentralen Preis vergab die Festivaljury also an die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop, für ihren kleinen, kaum 70-minütigen Essayfilm „Dahomey“. Diops ebenso poetisches wie diskursfreudiges Werk behandelt die Rückgabe von 26 afrikanischen Kunstobjekten, die einst von den französischen Kolonialherren gestohlen wurden und nun, nach jahrzehntelangem Ringen um Gerechtigkeit, endlich restituiert wurden – als Geister der Vergangenheit und Symbole eines längst nicht zu Ende gedachten Bemühens um Wiedergutmachung historischer Schuld.
Und auch der Mut, einen so absurden Film wie Bruno Dumonts Science-Fiction-Slapstick „L’Empire“ mit dem Preis der Jury auszuzeichnen, verdient Respekt: Denn in Dumonts Totalverweigerung jedes guten Geschmacks findet sich nicht nur eine Abrechnung mit Hollywoods Helden-Blockbusterei, sondern auch eine perfekte Allegorie für das Leben in der globalen Idiokratie.
Warum die Jury aber darüber hinaus „A Traveller’s Needs“, eines der schwächeren Spätwerke des koreanischen Regie-Outsiders Hong Sang-soo mit ihrem Großen Preis bedenken wollte, wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Und wie um Himmels Willen konnte es dazu kommen, dass sie in Matthias Glasners völlig überzogen konstruiertem Film „Sterben“ das beste Drehbuch zu erkennen meinte? Der Regiepreis ging an den innovationsfreudigen dominikanischen Filmemacher Nelson Carlos De Los Santos Arias, das war schon eher zu begreifen; für ihr Schauspiel kürte man die Britin Emily Watson und den Amerikaner Sebastian Stan.
Künstlerisch herausragend: Martin Gschlacht
In einem insgesamt jedoch eher hüftsteifen Wettbewerb konnte Österreichs Beitrag, der von Veronika Franz und Severin Fiala geschriebene und inszenierte Historienschocker „Des Teufels Bad“, nicht übersehen werden. Die Kritikerin des US-Branchenblatts „Variety“ bescheinigte dem Regie-Duo, die Welt ihres Films wirke „weniger gefilmt als aus den Elementen gewoben“; dessen Bilder „verflechten Blut und Schönheit wie in einer Dornenkrone“ – insbesondere lobte sie „das Gewebe von Licht und Erde in der außergewöhnlichen Fotografie“. So kam es, dass am Samstagabend, im Rahmen der Preisverleihung der Berlinale, ein Silberner Bär fällig wurde: Ihn erhielt der Wiener Martin Gschlacht, geboren 1969, für seine Kameraarbeit an „Des Teufels Bad“, gewürdigt als „herausragende künstlerische Leistung“.
Tatsächlich wäre das Gelingen der Depressions-Moritat „Des Teufels Bad“ ohne Gschlachts atmosphärische Fotografie gar nicht denkbar: Die nebelig-nassen Wälder, in denen Hauptdarstellerin Anja Plaschg als psychisch angeschlagene Bäuerin sich Schritt für Schritt verliert, aber auch die in natürlichem Licht und Kerzenschein gesetzten Innenräume prägen sich dank der Kompositionen Gschlachts unauslöschlich ein; seine auf 35mm-Material gedrehten Bilder zielen indes nie darauf ab, Virtuosität zu demonstrieren, sie dienen vielmehr stets den Anforderungen der Inszenierung und der Erzählung.
Die Karrierestationen des Martin Gschlacht: Studium an der Wiener Filmakademie bis 1996; drei Jahre später Gründung des Produktionsunternehmen coop99, gemeinsam mit den Regiekräften Barbara Albert, Jessica Hausner und Antonin Svoboda; schneller Aufstieg in die Höhen des deutschsprachigen Arthouse-Films. Gschlacht dreht nicht nur mit dem coop-Clan, auch mit Götz Spielmann, Ulrich Seidl, Michael Glawogger und Florian Flicker. 2018 arbeitet er erstmals für ein großes Hollywoodstudio (Albert Hughes’ „Alpha“). Er gewinnt zahllose Auszeichnungen, den Europäischen Filmpreis 2015 (für das Franz/Fiala-Debüt „Ich seh, ich seh“), drei Romys und vier Österreichische Filmpreise.
Und Gschlacht erweitert seinen Radius konsequent: Er realisiert mehrere Filme mit der US-iranischen Künstlerin Shirin Neshat, etwa „Women Without Men“ (2009) und zuletzt „Looking for Oum Kulthum“ (2017). Weit über 60 Filme und TV-Projekte hat er in den vergangenen 30 Jahren fotografiert und produziert, dabei etlichen Werken zu Welterfolgen verholfen: Die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić erhielt für „Grbavica“ 2006 den Goldenen Bären, Götz Spielmann 2009 eine Oscar-Nominierung für „Revanche“; letztere Ehre wurde auch Hubert Saupers Dokumentarfilm „Darwin’s Nightmare“ (2004) zuteil. Einen Silbernen Löwen erhielt Shirin Neshat in Venedig für „Women Without Men“.
Trotz einer derart hochkarätigen Werkliste sei „Des Teufels Bad“ natürlich „ein sehr besonderes Projekt“ für ihn, erklärt Gschlacht auf Anfrage von profil noch am Abend seiner Auszeichnung – dafür habe schon die großartige Darstellerin Anja Plaschg gesorgt. Eine derart gewaltige Performance habe er „selten filmen dürfen“, er habe sogar „bei laufender Kamera weinen müssen“. In seinem Berufsleben sei ihm dies überhaupt erst einmal passiert. Auch Franz und Fiala streut er Rosen, sie seien in der Lage, ihn „technisch und künstlerisch stets bis zum Äußersten zu fordern“. Er sehe darum seine Auszeichnung nicht so sehr als Einzelwürdigung, sondern „als Preis für den Film, für das Zusammenspiel toller Kreativer, die mir am Ende ermöglicht haben, das alles auch dementsprechend zu fotografieren.“
Und Gschlacht arbeitet, wie seit Jahrzehnten, auf Hochdruck weiter. Man merkt ihm an, dass er liebt, was er tut. Sein Enthusiasmus teilt sich mit, das österreichische Lamentieren liegt ihm nicht. Bei David Schalkos „Kafka“-Miniserie, die Ende März im ORF erstmals zu sehen sein wird, stand er an der Kamera. Gegen Ende dieses Jahres wird er Ulrike Ottingers langgehegtes Unternehmen „Die Blutgräfin“, nach einem Drehbuch Elfriede Jelineks, umsetzen. Inzwischen ist Gschlacht auch Mitglied der Oscar-Academy. Die inneren Erfordernisse und Mechanismen des Zusammenspiels von Regie und Fotografie versteht kaum jemand in der Branche besser als er. Den Berufstitel „Director of Photography“ trägt er jedenfalls, wie diese Berlinale-Auszeichnung, völlig zu Recht.