Faschismus-Parabel und apokalyptisches Musical: Der Untergang wird heiter
Man läge falsch, wenn man meinte, das Gegenwartskino sei vor allem für Bilder- und Stimmungszauberei zuständig, für Erholung vom Grauen unserer Tage. Tatsächlich sind gewisse Filmerzählungen dazu imstande, in ethisch-philosophische Tiefen vorzudringen, die weiten Teilen der Kunst- und Academia-Welt verschlossen bleiben. Athina Rachel Tsangari und Joshua Oppenheimer, Größen des internationalen Arthouse-Films, können mit ihren neuen Werken – die, vielleicht signifikant, beide als säurehaltige Sozialkomödien angelegt sind – als Beleg dieser These fungieren.
Als Gast des Filmfestivals Diagonale ist die griechische Filmemacherin und Produzentin Athina Rachel Tsangari – mit exzentrischen Entwürfen wie „Attenberg“ (2010) gehört sie, wie ihr Kollege Yorgos Lanthimos, zur Greek Weird Wave – soeben in Graz angekommen; sie wird dort ihr (fast) gesamtes Werk zeigen, eine Masterclass abhalten – und eine Preview ihres jüngsten Films (Österreich-Kinostart: 23. Mai) präsentieren: „Harvest“, entstanden nach einem Roman des britischen Schriftstellers Jim Crace, ist eine Art Western von Beckett’scher Absurdität.
In einem Dorf in historisch unbestimmter Zeit halten Kapitalismus, Landnahme und drei Fremde Einzug. Der Schauspieler Caleb Landry Jones irrt rat- und machtlos durch die sich wandelnde Landschaft seines Heimatdorfs, in dem Angst, Xenophobie und Selbstauslöschung sich verbreiten.
Sie habe „nicht widerstehen“ können, „dieses präzise Porträt unserer Zeit zu bearbeiten“, sagt Tsangari, 59, im profil-Gespräch. Und sie erkennt sich selbst in dem Verlierer wieder, der ihr Protagonist ist: „Ich bin, wie wir alle, verdammt dazu, Zeugin eines gigantischen globalen Autounfalls zu sein.“ Die Frustration und Ohnmacht, die sie fühle, habe sie in einen Film gießen wollen. „Können wir noch irgendetwas tun? Der entfesselte Faschismus ist zu einem Theater des Absurden geworden – zu einer neuen Pandemie.“
An der CalArts-Universität nahe Los Angeles unterrichtet die Regisseurin. Zwischen Mai und September lebt sie mit ihrem Ehemann auf einer kleinen griechischen Insel, den Rest des Jahres in L.A., um zu lehren und zu drehen. Für ihren nächsten Film, ein Science-Fiction-Projekt, habe sie sich von der südkalifornischen Wüstenlandschaft inspirieren lassen, die sie als „postapokalyptisch“ wahrnimmt.
Lügen und Tabus
Mit apokalyptischen Bildern kennt sich auch Joshua Oppenheimer, 50, aus. Schon seine in Indonesien entstandenen, oscarnominierten Trauma-Dokumente „The Act of Killing“ (2012) und „The Look of Silence“ (2014) erkundeten den Alptraum der Entmenschlichung. Nun hat Oppenheimer den Schritt vom dokumentarischen Kino zum Spielfilm gewagt: In seinem Musical „The End“ (soeben im Kino gestartet) porträtiert er die nach dem Kollaps der Natur letzte überlebende Familie (um Tilda Swinton und Michael Shannon), die mit ihren Bediensteten in einem luxuriösen Domizil unter Tage, in einer Saline, lebt – in einem Minenfeld des Schweigens, in dem alle wesentlichen Themen des Lebens ausgespart bleiben, bis eine junge Frau (Moses Ingram) überraschend in ihrer Höhle strandet – und zögerlich aufgenommen wird. Sie bricht die Verkrustungen auf, verändert die Machtverhältnisse. Um Klimakatastrophe, Klassismus und Geflüchtetenkrise geht es in „The End“.
In „Harvest“ auch, nur formal ganz anders: Athina Rachel Tsangaris künstlerische Wurzeln liegen in der antiken griechischen Tragikomödie, bei Aristophanes und Euripides – und im nihilistisch-anarchischen Kino der 1970er-Jahre. Robert Altmans „McCabe & Mrs. Miller“ (1971) oder Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ (1975) nennt sie als Inspirationen: ein dezidiert antiheroisches Kino. In „Harvest“, gedreht an der westschottischen Küste, in der Grafschaft Argyll, spielen die lokalen Dörfler, die realen Schafhirten und Weber der Umgebung mit.